Die Klagelieder

 

Des Propheten und Zions Klage

(Klgl. 1 + 2)

 

Einführung

 

  Dieses Buch beginnt mit dem hebräischen Wort AIKhE, punktiert EJKhaH, was mit »Ach, wie« übersetzt werden darf. Es beschreibt das Weh und Ach in der Zeit nach der Eroberung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar am 9. Tag des 4. Monats (Tamus, Juni/Juli) und der Zerstörung des Tempels am 10. Tag des 5. Monats (Abh, Juli/August) des Jahres 587 v. Chr. Es war eine Zeit furchtbaren Elends. Diese Rolle aus den »Schriftwerken« (hebräisch: Kötubhim) trägt die Überschrift EJKhaH (»Ach, wie!«), die die Juden gebrauchen, zu Recht. Man mag auch »Wehe!« schreiben. Der gebräuchlichste Titel »Klagelieder« trifft den Inhalt aber ebenfalls genau.

  Der Verfasser ist nach jüdischer und christlicher Überlieferung sowie einer Anmerkung in der Septuaginta (der Übersetzung der hebräischen heiligen Schriften ins Griechische) der Prophet Jeremia, der die Katastrophe, wie im Buch Jeremia nachzulesen, vorausgesagt hatte und nach ihrem Eintritt seinem Schmerz darüber in den Klageliedern Ausdruck verleiht. Er hatte Israel zur Umkehr aufgerufen – vergeblich. Und nun: er klagt Jewe nicht an, sondern erkennt die mit diesem Gericht vollzogene Gerechtigkeit Jewes an (Kap. 1:18) und preist dessen zukünftige Huld. Mitten in der Verzweiflung leuchtet die Verheißung der Barmherzigkeit Jewes auf (Kap. 3:21 - 32). Da Jewe die Bundesverheißungen für den Fall der Untreue des Volkes erfüllte (5. Mose 28:15 - 68), steht fest, dass Er auch die Verheißungen der herrlichen Zukunft Israels erfüllen wird (5. Mose 28:1 - 14). So empfangen die Klagenden kraftvollen Trost.

  Das Buch enthält in jedem seiner fünf Kapitel ein Klagelied. Die Kapitel eins, zwei und vier haben je 22 Verse, deren Anfangsbuchstabe der Reihenfolge des hebräischen Alphabets entspricht; Vers eins beginnt also mit Aleph, Vers zwei mit Bejt, Vers 22 mit Taw. Im Kapitel drei mit 66 Versen stehen die Buchstaben jeweils am Anfang von drei Versen. Das fünfte Lied hat ebenfalls 22 Verse, deren Anfangsbuchstaben allerdings nicht dem Alphabet folgen.

  Das Buch hat durch den wiederholten Ausruf des Wortes EJKhaH zu Beginn der Kapitel eins, zwei und vier einen eindeutig klagebetonten Aufbau. Die Klagestruktur wird durch das rhythmische Versmaß »3 + 2« verstärkt; die zweite Hälfte einer jeden Verszeile hat einen Schlag weniger als die erste Hälfte. Dieses »hinkende« Versmaß hinterlässt beim Hörer den Eindruck von Unvollständigkeit, Mangel und Traurigkeit.

 

Kapitel 1

 

Der Prophet klagt

 

1 (Aleph) Ach, wie einsam weilt die Stadt (3 Schläge),

die einst vielbevölkerte (2 Schläge)!

Wie eine Witwe ist geworden (3 Schläge)

die Große unter den Nationen (2 Schläge);

die Fürstin unter den Provinzen (3 Schläge)

verfiel der Fronschaft (2 Schläge).

2 (Bejt) Sie weint und weint in der Nacht (3),

und ihre Tränen sind auf ihrer Wange (2).

Kein Tröster ist für sie da (3)

aus all den sie Liebenden (2);

all ihre Gefährten verrieten sie (3),

wurden zu ihren Feinden (2).

3 (Gimel) Verschleppt ist Juda

in Elend und in schwerer Fron.

Es (Juda), es wohnt unter den Nationen,

es findet keinen Ruheort;

alle es Verfolgenden ereilten es

inmitten der Bedrängnisse.

4 (Dalet) Die Wege (nach) Zion sind Trauernde (Verödete),

weil keiner zur bezeugten (festgelegten) (Zeit) (zum Fest) kommt.

All ihre (Zions) Tore sind verödet,

ihre Priester sind seufzende,

ihre Jungfrauen bekümmerte,

und dieses ist ihr (der Zion) bitter.

5 (He) Ihre Bedränger wurden zum Haupt (sind obenauf),

ihre Feinde sind unbekümmert.

Denn Jewe ließ sie (Zion) bekümmern

aufgrund ihrer vielen Übertretungen.

Ihre Kinder wandeln als Gefangene

angesichts des Bedrängers.

6 (Waw) Und so schwand von der Tochter Zion (von den Einwohnern Zions)

all ihr Prunk.

Ihre Fürsten wurden wie Hirsche,

die keine Weide fanden;

und sie gingen kraftlos

angesichts des Verfolgers.

7 (Sajin) Jerusalem gedenkt

in den Tagen ihrer (der Stadt) Demütigung (oder: ihres Elends) und ihrer Heimatlosigkeit

(all ihrer Kostbarkeiten, die ihr waren

von den Tagen der Vorzeit an), (späterer Zusatz?)

nachdem nun ihr Volk in die Hand des Bedrängers gefallen ist

und ihr kein Helfer ist.

Die Bedränger sehen sie, erheitern sich

über ihr Ende.

8 (Chejt) Es sündigte, ja sündigte Jerusalem,

darum wurde sie zur Abstoßenden (zum Abscheu);

alle sie (einst) Verherrlichenden schätzen sie (nun) gering,

denn sie sahen ihre Blöße.

Und auch sie, sie seufzt

und wendet sich ab.

9 (Thejt) Ihre Unreinheit ist an ihren Borten,

nicht gedachte sie ihres Späteren (ihrer Zukunft).

Und sie stürzte hinab, außerordentlich (tief),

kein Tröster ist ihr.

Sieh an, Jewe, meine Demütigung (mein Elend),

denn der Feind wurde (sehr) groß.

10 (Jod) Seine Hand breitete der Bedränger aus

über all ihre Kostbarkeiten;

denn Nationen sah sie

in ihr Heiligtum kommen,

die betreffend Du (Jewe) geboten hast, dass sie nicht

zu Dir in die Versammlung (Gemeinschaft) kommen.

11 (Kaph) All ihr Volk, sie sind Seufzende,

nach Brot Suchende;

sie geben ihre Kostbarkeiten für Speise hin,

um die Seele zu stärken.

Sieh, Jewe, und blicke her,

denn ich wurde wie eine Fortgetriebene.

...

 

  Die einst überaus herrliche Stadt und ihr prächtiger Tempel sind zerstört. Wegen ihrer schrecklichen Sünden brachte Jewe das Gericht über die Menschen. Deren Elend ist unbeschreiblich. Die Überlebenden wurden nach Babel in die Gefangenschaft verschleppt; wie Mose angekündigt hatte, mussten sie dort strengsten Frondienst in Hunger und Durst und unter dem Spott ihrer Bedrücker leisten (Vers 1; 5. Mose 28:48).

  Einst hatte Jerusalem viele Gefährten und Liebhaber, verbündete Nationen und vielversprechende Götzen (Vers 2; Jer. 3:1; 4:30; 30:14). Aber das Juda zur Hilfe gekommene ägyptische Heer wurde von Nebukadnezar geschlagen (Jer. 37:5 - 7; Hes. 29:6, 7, 19), und die Götzen hatten nichts getaugt.

  Niemand kommt mehr zu den im Gesetz des Mose bezeugten Festzeiten nach Zion (Vers 4; Hos. 2:13). Zion hieß ursprünglich der Hügel, auf dem die Davidsstadt stand, dann wurde die Bezeichnung auf den Tempelberg ausgedehnt und schließlich auch für ganz Jerusalem gebraucht.

  König Zedekia von Juda (598 - 587 v. Chr.) und seine Krieger waren im letzten Moment aus der Stadt geflohen, waren aber »wie Hirsche, die keine Weide fanden« (Vers 6) und zerstreuten sich. Zedekia wurde gefangen genommen und zu Nebukadnezar gebracht (2. Kön. 25:4 - 6; Jer. 39:4, 5).

  Die Stadt hatte nicht an ihr Späteres gedacht (Vers 9), an die unweigerlichen Konsequenzen ihrer Übertretungen der Tora, der »Zielanweisung«.

  Die Nationen betraten das Heiligtum Israels (Vers 10), sie, denen verboten war, in die Gemeinschaft der Anbeter zu kommen (5. Mose 23:4); ja sie zertraten und verbrannten es. Das war unfassbar! Doch dem Elohim Israel ist Gehorsam wichtiger als ein Bauwerk, in welchem Rituale ohne Glauben vollzogen wurden.

  Aber da sind einige Menschen, die sich besinnen und Jewe anrufen, dass Er doch ihr Elend ansehen und lindern möge (Verse 9 + 11).

 

Zions Klage und Bekenntnis

 

12 (Lamed) Nicht (treffe) euch (all der Jammer), all ihr des Weges Ziehenden.

Blicket und sehet,

ob es einen Schmerz gibt gleich meinem Schmerz,

der mich kahl gemacht (vernichtet) hat,

mit welchem Jewe (mich) bekümmern ließ

am Tag des Entbrennens Seines Zorns.

13 (Mem) Von der Höhe her entsandte Er Feuer in meine Gebeine

und waltete (herrschte) in ihnen.

Er breitete meinen Füßen ein Netz aus

und ließ mich nach hinten fallen,

gab mir Verödung,

Bluten den ganzen Tag.

14 (Nun) An mich gebunden ist das Joch meiner Übertretungen

von Seiner Hand.

Sie verflochten sich hinansteigend auf meinen Hals,

Er ließ meine Kraft straucheln.

Mein Herr gab mich in die Hände (anderer),

nicht kann ich erstehen (hochkommen).

15 (Samekh) Es machte gewichtslos (bedeutungslos) all meine Recken

der Herr in meiner Mitte.

Er rief wider mich aus eine bezeugte (Zeit),

um meine Erwählten (wehrfähige Jünglinge) zu zerbrechen;

mein Herr trat die Kelter,

(ihr) der Jungfrau, der Tochter (den Einwohnern) Judas.

16 (Ajin) Aufgrund von diesem weine ich,

mein Auge, mein Auge (ergießt) Wasser nieder,

denn fern ist von mir ein Tröster,

ein meine Seele Erquickender.

Meine Söhne sind am Verschmachten,

denn der Feind ist mächtig.

17 (Pe) Zion breitete ihre Hände aus,

kein Tröster ist ihr.

Jewe entbot gegen Jakob

ringsum ihn die ihn Bedrängenden.

Jerusalem ist geworden

zur Abstoßenden (Abscheu) bei ihnen.

18 (Zadej) Gerecht ist Er, Jewe,

denn (gegen den Befehl) Seines Mundes war ich erbittert (trotzte ich).

Höret doch, alle Völker,

und sehet meinen Schmerz,

meine Jungfrauen und meine Erwählten (wehrfähigen Jünglinge)

gingen weg in die Gefangenschaft.

19 (Qoph) Ich rief meinen Liebhabern;

sie, sie betrogen mich.

Meine Priester und meine Alten

hauchten in der Stadt aus,

da sie Speise für sich suchten

und ihre Seele erquicken wollten.

...

 

  Mit diesen Versen ruft Zion die Menschen und Nationen im Umkreis auf, Lehren aus ihren Sünden und der Strafe Jewes zu ziehen. Und ob jemand Mitleid haben (Vers 12) und sie trösten (Vers 16) würde?

  Zion weiß genau, dass alles, was sie trifft, von Jewe kommt (Verse 13 - 15). In später, aber rechter Erkenntnis nennen sie das Joch, das die Babylonier ihnen aufzwingen, das »Joch aus Eisen«, wie Mose gesagt hatte (5. Mose 28:48), das »Joch meiner Übertretungen« (Vers 14).

  Jewe hatte den Eroberern geboten und sie gegen Jakob entsandt (Vers 17). »Jakob« ist eine Bezeichnung für Israel, schließlich bekam ihr Vorvater Jakob am Pniel den Namen Israel (1. Mose 32:29).

  Alles an Jerusalem ist jetzt abstoßend (Vers 17); eigentlich sollte sie die Heiligkeit Jewes ausstrahlen ((2. Mose 19:6). Doch nun – welch eine Scham, welch ein Jammer!

  »Gerecht ist Er, Jewe« (Vers 18; 5. Mose 32:4; Ps. 119:137; Neh. 9:33), und zwar auch im Gericht. Jerusalem erkennt und bekennt seinen Ungehorsam. Dem Mose hatten sie geantwortet: »Alles, was Jewe geredet hat, werden wir tun« (2. Mose 19:8). Es sollte sich aber an ihnen erweisen, dass die Menschen es nicht können. Fleisch kann sich Gott nicht unterordnen (Röm. 8:7). Hätten sie doch um Gnade gefleht! Die Gnade hätte sie gekräftigt (2. Tim. 2:1).

 

Zions Gebet

 

20 (Rejsch) Sieh, Jewe, denn ich werde bedrängt!

Meine Eingeweide schäumen,

mein Herz wendet sich in mir um,

denn erbittert, ja erbittert (trotzig) war ich.

Draußen beraubt das Schwert (mich) der Kinder,

im Haus ist's wie der Tod.

21 (Schin) Man hat gehört, dass ich seufze;

kein Tröster ist mir.

All meine Feinde hörten (von dem) mir (widerfahrenen) Bösen,

sie haben ihre Wonne daran, dass Du, Du es getan hast.

Lässt Du (aber) den Tag kommen, den Du ausriefst,

so werden sie wie ich.

22 (Taw) All ihre Bosheit kommt (dann) vor Dein Angesicht

und macht es ihnen kahl (vernichtet sie),

so wie Du es mir kahl gemacht (mich vernichtet) hast

aufgrund all meiner Übertretungen,

denn meiner Seufzer sind viele,

und mein Herz ist siech.

...

 

  Nun wendet sich Zion betend an Jewe, ihren Elohim. Nur das wahre Zion tut dies, die Gläubigen und Treuen und die durch das Gericht zur Umkehr Geführten, diejenigen, die erkannt haben, dass sie den Geist Jewes betrübt hatten (Jes. 63:10). Zion schüttet ihr Herz vor Jewe aus. Und wenn auch kein Tröster da ist, so vermittelt ihnen ihre Hinwendung zu Jewe, dem Heiligen Israels, den dringend notwendigen Trost.

  Der letzte Satz von Vers 20 mag als Rückblick auf die Belagerung verstanden sein: Draußen wurden alle, die aus der Stadt flohen, vom Schwert getötet, und drinnen, in den Häusern Jerusalems, starben die Menschen vor Hunger.

  Im Übrigen weiß Zion, dass ihr gerechter Gott auch ihre Feinde, die jetzt voller Schadenfreude sind (Vers 21), dereinst gerecht richten wird. Dann wird es jenen ebenso ergehen (Jer. 25:14) – spätestens im Tag des Herrn, der siebenjährigen Zeit der Zornesgerichte Jewes in der Zeit des Endes. Gott verfolgt dabei immer ein Ziel: Seine Gerichte bringen zurecht!

 

Kapitel 2

 

Beschreibung der totalen Zerstörung

 

1 Ach, wie umdüstert in Seinem Zorn

mein Herr die Tochter Zion!

Er warf von den Himmeln zur Erde

die Zierde Israels,

und nicht gedachte Er des Schemels Seiner Füße

am Tag Seines Zorns.

2 Mein Herr verschlang ohne zu schonen

alle begehrten (Fluren) Jakobs.

Es zerstörte in Seinem Überwallen

die Wehrfesten der Tochter Juda,

ließ sie zu Boden gehen (und) entheiligte

das Königtum und seine Fürsten.

3 Er hat abgehauen im Entbrennen Seines Zorns

jedes Horn (Kraftpotenzial) Israels,

kehrte Seine Rechte (Hand) nach hinten (zog sie zurück)

vor dem Angesicht des Feindes

und zehrte Jakob auf wie lohendes Feuer,

das ringsum frisst.

4 Er spannte Seinen Bogen wie ein Feind,

erhob Seine Rechte wie ein Bedränger

und brachte alles um,

was das Auge begehrt.

Im Zelt der Tochter Zion schüttete Er aus

Seine Zorneshitze wie Feuer.

5 Mein Herr wurde wie ein Feind,

Er verschlang Israel,

verschlang all ihre (Zions) Hochburgen,

verdarb seine (Israels) Wehrfesten

und mehrte der Tochter Juda

Wehrufen und Wehruf.

6 Und Er tat Gewalt dessen (Israels) Umheckung (schützende Hecke) wie einem Garten,

Er verdarb (den Ort) Seines Zeugnisses.

Vergessen sein ließ Jewe in Zion

bezeugte (Festzeit) und Sabbat

und verschmähte im Drohen Seines Zorns

Regent und Priester.

7 Mein Herr schloss Seinen Altar aus,

gab Sein Heiligtum preis;

Er ließ einschließen in der Hand des Feindes

die Mauern ihrer (Zions) Hochburgen;

(die Feinde) ließen (ihre) Stimme hören im Haus Jewes

wie am Tag der bezeugten (Festzeiten).

8 Jewe berechnete (plante), verderben zu lassen

die Mauer der Tochter Zion;

Er streckte die Messschnur aus, nicht zurückziehend

Seine Hand vom Verschlingen;

und Er brachte zum Trauern Umwappnung (Wall) und Mauer,

zusammen sind sie dahingewelkt.

9 Im Erdreich versanken ihre (der Mauern) Tore,

Er (gab) verloren und zerbrach ihre (der Mauern) Riegel.

Ihre (Zions) König und ihre Fürsten sind bei den Nationen;

keine Zielanweisung ist.

Gar noch ihre Propheten – nicht erlangen sie

eine Vision von Jewe.

10 Auf dem Erdboden sitzen verstummt

die Alten der Tochter Zion;

sie (streuten) Staub hinauf auf ihr Haupt,

umschürzten sich mit Säcken.

Dem Erdboden zu (neigen) ihr Haupt hinab

die Jungfrauen Jerusalems.

...

 

  Welch ein Jammer! Alles ist vernichtet! Das Elend ist unfassbar!

  Dies aber steht fest, und diese Verse betonen es: Jewe tat dies alles (vom König Nebukadnezar ist keine Rede). Und: Jewes Zorn ist berechtigt, das Gericht über Jerusalem ist die gerechte Strafe für ihre Sünden. Wenn Er es aber tat, dann musste es Sinn und Zweck haben und zu etwas Gutem führen.

  Als Schemel Seiner Füße wird hier (Vers 1) Zion bezeichnet, in anderen Fällen die Erde (Jes. 66:1; Mat. 5:35).

  Selbst der heilige Tempel ist nur noch Schutt und Asche (Vers 6). Das Gesetz kann nun in weiten Teilen nicht mehr befolgt werden. Die rituelle Anbetung Jewes ist unmöglich geworden. Die Feste und Sabbate hat Jewe der Vergangenheit anheimgegeben; längst zuvor aber hatte Israel die Heiligung der Feiertage missachtet.

  Jetzt hört man im Hause Jewes, in den Trümmern, nur noch die Stimmen der hohnlachenden Feinde (Vers 7).

  Schrecklich ist es für Israel, unter die Nationen zerstreut zu sein (Vers 9). Sie hatten keine Priester mehr, die sie vor Jewe vertreten könnten. Abgesehen von den Propheten Jeremia, Hesekiel und Daniel waren keine Propheten mehr da (Ps. 74:9), die ihnen ein Wort Jewes hätten sagen können. Die Propheten hatten sich allerdings schon seit langem zu falschen Propheten gewandelt (Jer. 8:8 - 10).

  Heute gibt es keine und brauchen wir keine Propheten mehr – sie gehören zur Grundlage (Eph. 2:20) –, weil das apostolische und prophetische Wort »vervollständigt« ist (Kol. 1:25). Es gibt nichts Neues mehr zu sagen. Sollte jemand als Prophet auftreten, ist er ein falscher Prophet.

 

Klage über die Zerstreuung der Stadt

 

11 Alldahin sind meine Augen in Tränen,

schäumend sind meine Eingeweide,

zum Erdreich hin ausgeschüttet ist meine Leber

aufgrund des Zusammenbruchs der Tochter meines Volkes,

da Kind und Säugling schmachten

auf den Plätzen der Burgstadt.

12 Zu ihren Müttern sprechen sie:

Wo ist Getreide und Wein?

im Schwachwerden wie Durchbohrte

auf den Plätzen der Stadt,

im Ausschütten ihrer Seele

in den Schoß ihrer Mütter.

13 Was soll ich (Jeremia) dir bezeugen, was dir gleich (finden),

(dir), der Tochter Jerusalem?

Was soll ich dir gleichwertig machen, sodass ich dich tröste,

Jungfrau, Tochter Zion?

Denn groß wie das Meer ist dein Zusammenbruch,

wer heilt dich?

14 Deine Propheten schauten dir

Wahnhaftes und Zerfallendes;

und nicht enthüllten sie dein Vergehen,

deine Gefangenschaft abzuwenden,

sondern sie schauen dir Gepriesenes

des Wahnhaften und Verführungen.

15 Es klatschten ob dir mit den Händen

alle des Weges Ziehenden;

sie zischten und schüttelten ihr Haupt

über die Tochter Jerusalem:

Ist dies die Stadt, von der man sprach: Vollendung der Schönheit,

Wonne der ganzen Erde?

16 Wider dich reißen den Mund auf

all deine Feinde;

sie zischen und knirschen mit den Zähnen,

sie sprechen: Wir verschlingen!

Gewiss, dies ist der Tag, den wir erharrt hatten!

Wir fanden (erreichten), wir sahen (ihn, den Tag).

17 Jewe tat, was Er geplant hatte;

Er erfüllte Sein gesprochenes (Wort),

das Er von den Tagen der Vorzeit an entboten (gebietend entsandt) hat.

Er zerstörte und verschonte nicht

und erfreute den Feind ob dir,

Er erhöhte das Horn deiner Bedränger.

...

 

  Hungersnot während und nach der Belagerung, unsägliches Leid der Kinder, weit und breit keine Hoffnung mehr, falsche Propheten hatten dem Volk nach dem Mund geredet (»Gepriesenes«, Vers 14) und es ins Verderben gebracht (Jer. 5:31; 23:32; 27:10, 15); und nun die Häme und der Spott der Sieger – Jeremias Augen sind vor Tränen verglommen. All das hat Jewe getan, weil Jerusalem auf andere Weise nicht zur Umkehr zu bewegen ist.

  Vers 13 kann so verstanden werden, dass Jeremia keinen Vergleichsfall ähnlichen Ergehens und anschließender Rettung findet, um Zion damit Trost zusprechen zu können.

  In den Versen 16 und 17 (ebenso in den Kapiteln 3 und 4) ist die alphabetische Reihenfolge von Ajin und Pe umgekehrt. Wie Tonscherben zeigen, waren damals zweiAlphabete im Gebrauch.

 

Aufforderung, zu Jewe zu schreien

 

18 Ihr (Zions) Herz schrie zu meinem Herrn.

O Mauer der Tochter Zion,

lass hinabfließen wie einen Bach die Tränen

tags und nachts.

Gib dir kein Aufhören,

nicht stehe  dein Augapfel still.

19 Stehe auf, rufe helltönend in der Nacht

zum Anfang der Nachtwachen!

Schütte aus wie Wasser dein Herz

vor dem Angesicht meines Herrn.

Erhebe deine Hände zu Ihm

wegen der Seele deiner Kinder,

(die vor Hunger verschmachten

an allen Straßenecken.) (Späterer Zusatz?)

...

 

Selbst die Mauerreste sollen zu Jewe schreien (Vers 18). Der Aufforderung des Verses 19, die Hände zu Jewe zu erheben, kommt Zion mit dem nachfolgenden Gebet nach; schließlich bewirkt die Betrübnis nach dem Willen Gottes Umsinnung zu einem unbereubaren Heil (2. Kor. 7:10).

 

Das Gebet Zions

 

20 Siehe, Jewe, und blicke her!

Wem machtest Du's so kahl (nahmst Du alles weg)?

Ob Frauen die Frucht ihres Leibes essen (müssen),

die Kinder, die gehegten?

Ob umgebracht werden (sollen im Heiligtum meines Herrn

Priester und Prophet?

21 Auf dem Boden der Gassen hingestreckt

liegen Jüngling und Alter;

meine Jungfrauen und meine Auserwählten (wehrfähigen Mannen)

fielen infolge des Schwertes.

Am Tag Deines Zorns brachtest Du um,

Du schlachtetest, verschontest nicht.

22 Du riefst wie zum Tag der bezeugten (Festzeiten)

Die mich Begehrenden von ringsum,

und es gab am Tag des Zorns Jewes

keinen Entronnenen und Überlebenden.

Die, die ich mit Windeln gewickelt und großgezogen hatte –

mein Feind vernichtete sie.

...

 

  Entsetzlich – was Jerusalem durchlitt und noch erleidet! Jetzt schreien sie zu Jewe, dass Er Seines Volkes gedenken möge. Jewe aber antwortet nicht. Der einzige Trost ist, dass es Jewe war, der ihr untreues Verhalten getreu Seiner Ankündigung beantwortet hat

(3. Mose 26:14 - 39; Jer. 19:9).

  Die Priester und Propheten waren von den babylonischen Kriegern im Tempel hingeschlachtet worden. Frauen aßen ihre Kleinkinder vor Hunger, wie es Mose angesagt hatte (3. Mose 28:53; 5. Mose 26:29; Klgl. 4:10).

  Vielleicht dachten die wenigen klagenden Überlebenden auch an die Worte Jesajas: »Wenn nicht Jewe der Heere uns Samen übrig gelassen hätte, wären wir wie Sodom geworden und hätten Gomorra geglichen« (Jes. 1:9; Röm. 9:29), und »Wenn auch dein Volk Israel wie der Sand des Meeres wird, so wird doch nur der Überrest gerettet werden« (Jes. 10:22; Röm. 9:27).

 

Nicht für äonisch verwirft Jewe

(Klagelieder 3)

 

  Kapitel drei ist das Herzstück der Klagelieder. Inmitten all des Jammers der Kapitel eins und zwei sowie vier und fünf leuchtet das Erbarmen Jewes auf. Jeremia spricht von sich selbst; was er aber sagt, bezieht alle treuen Überlebenden ein.

 

Kapitel 3

 

Beschreibung des Gerichts

 

1 Ich bin der Bevollmächtigte, der gesehen hat die Demütigung (das Elend)

infolge des Steckens Seines überwallenden Zorns.

2 Mich führte Er und ließ mich gehen

in der Finsternis und nicht im Licht.

3 Ja, gegen mich kehrt Er, wendet Er

Seine Hand all den Tag.

4 Er ließ mein Fleisch und meine Haut dahinschwinden,

zerbrach meine Gebeine.

5 Er umbaute mich und umgab mich

mit Gift und Erschöpfung.

6 Er ließ mich wohnen in Umfinsterungen

wie die Toten des Äons.

7 Er vermauerte mich, sodass ich nicht hinausgehen (kann),

Er machte meine kupferne (Kette) schwer.

8 Auch dies noch, wenn ich wehschrie und um Rettung rief,

verschloss Er mein Gebet.

9 Er vermauerte meine Wege mit Quadern,

meine Pfade machte Er krumm (unbegehbar).

10 Ein lauernder Bär war Er mir,

ein Löwe in verborgenen (Orten).

11 Meine Wege lenkte Er ab und zehrte mich ab,

setzte mich als Ödewerdenden.

12 Er spannte Seinen Bogen und stellte mich auf

wie die Zielscheibe für den Pfeil.

13 Er ließ eindringen in meine Nieren

die Söhne (Pfeile) Seines Köchers.

14 Ich wurde all meinem Volk zur Erheiterung (zum Gespött),

wurde ihr Saitenspiel (Spottlied) den ganzen Tag.

15 Er sättigte mich mit Bitterkräutern,

tränkte mich mit Wermut.

16 Und Er machte, dass meine Zähne sich zersplitternd verbissen,

zerrte mich nieder in die Asche.

...

 

  Was Jeremia hier von sich persönlich erzählt, haben viele Israeliten durchgemacht, verspottet (Vers 14) wurden allerdings nur Jeremia und andere Gläubige (Jer. 11:18, 19; 20:7, 8). Jewes Hand hatte sich insofern gegen Seinen treuen Propheten gewandt (Vers 3), als er als Angehöriger seines Volkes mit erleiden musste, was alle erlitten. Die Bitterkeit des Wermut-Halbstrauchs (Vers 15) ist ein Symbol für mancherlei Arten von Bitternissen.

 

Jeremias Gebet

 

17 Und Du schlossesst meine Seele vom Frieden aus,

ich wurde des Guten enthoben.

18 Und ich sprach: Meine Ausdauer verlor sich

und meine Erwartung, weg von Jewe.

19 Gedenke meiner Demütigung (meines Elends) und meines Umherschweifens,

des Wermuts und des Gifts.

...

 

  Jeremias Ausdauer und seine auf Jewe gesetzte Erwartung sind ihm gänzlich entschwunden. Und dennoch bleibt er an Jewe haften und wendet sich im Gebet an den Einzigen, der helfen kann: Jewe. Mit dem Umherschweifen ist die Heimatlosigkeit der in die Nationen Zerstreuten angesprochen, die von Wermut und Gift, vom Schwert und von Bedrückung und vielerlei anderer Pein verfolgt werden (Jer. 9:15).

 

 

 

Im Gebet gestärkt, gedenkt Jeremia Jewes

 

20 Es gedenkt, ja gedenkt und beugt sich

meine Seele in mir.

21 Dies nehme ich mir zu Herzen,

darum warte ich.

22 Huld (Huld über Huld) Jewes ist es, dass es mit uns nicht ganz aus ist,

dass Seine Erbarmungen nicht alldahin sind.

23 Neu sind sie Morgen (um Morgen);

groß ist Deine Treue.

24 Mein Teil ist Jewe, spricht meine Seele,

darum warte ich auf Ihn.

25 Gut ist Jewe dem Sein Harrenden,

der Seele, die nach Ihm forscht.

26 Gut ist, sowohl zu warten als auch still zu sein

hinsichtlich der Rettung Jewes.

...

 

  Still zu sein und auf Jewe zu warten und zu harren – dies ist die rechte geistliche Haltung. Alles, was wir sind und haben, ist stets in Jewe und aus Ihm. Israel lebt nur aufgrund der großen Treue Jewes und Seiner alles übersteigenden Huld. Jewes Erbarmungen haben keine Grenzen. Darum erhebt eure Häupter, ihr Israeliten, in Erwartung und Zuversicht!

  Die Verse 22 bis 24 stellen den Höhepunkt der Klagelieder dar.

  Von den vielen Erbarmungen Jewes spricht auch Psalm 69:17. Im Gebet der Leviten heißt es: »Aber in Deinen vielen Erbarmungen vollzogst Du an ihnen nicht gänzliches Gericht und verließest sie nicht, denn ein gnädiger und Sich erbarmender El bist Du!« (Neh. 9:31). »Harre auf Jewe, und Er rettet dich!« (Spr. 20:22).

 

Jewe strebt nur Gutes an

 

27 Gut ist dem mächtigen Mann, dass er trägt

das Joch in seinen Jugendzeiten.

28 Er wohne abgesondert und sei still,

so denn Er (Jewe) es (das Joch) ihm auferlegte.

29 Er lege seinen Mund in den Staub;

vielleicht kommt das Erharrte?

30 Er biete dem ihn Schlagenden die Backe,

er werde satt an Schmach.

31 Den nicht verwirft

für äonisch mein Herr,

32 denn wenn Er auch bekümmerte, so erbarmt Er sich doch

gemäß der Größe Seiner Huld.

33 Denn nicht von Seinem Herzen aus demütigt Er

und hat Er die Söhne des Mannes bekümmert,

34 dass einer unter seinen Füßen zermalmt

alle Gebundenen der Erde,

35 dass einer das Recht des Mächtigen beugt

vor dem Angesicht des Obersten,

36 dass einer den Menschen in seinem Rechtsstreit krümmt,

und mein Herr es nicht sieht.

37 Wer ist dieser, der da sprach, und es wurde,

und mein Herr gebot es nicht?

38 Aus dem Mund des Obersten gehen nicht

das Böse (wörtlich: die Bösen) und das Gute heraus.

...

 

  Es ist gut für einen Menschen, sich bereits in der Jugendzeit in ein Joch einzuüben (Vers 27). In Psalm 119:71 heißt es: »Gut ist es für mich, dass ich gedemütigt wurde, damit ich Deine Gesetze lerne.«

  Ein junger Mann soll still ertragen ohne gegen  das aufzubegehren und zu protestieren, was Jewe ihm auferlegt (Vers 28), eventuell auch abgesondert zu sitzen, ausgeschlossen vom Kreis der Großen.

  Der junge Mann, aber auch das ganze Volk Israel, reiße seinen Mund nicht auf, sondern harre auf Jewe und das Gute, das Er heraufführen wird (Vers 29). Er wehre sich nicht (Vers 30), sondern nehme die Demütigung hin, wie auch unser Herr Jesus sagt: »Ich aber sage euch, dem Bösen nicht Widerstand zu leisten, sondern wer dich auf deine rechte Wange ohrfeigt, dem wende auch die andere zu« (Mat. 5:39; Jes. 50:6).

  Nicht für äonisch verwirft der Herr (Vers 31); die Verwerfung Israels ist zeitlich begrenzt und nicht für die zukünftigen Äonen (Jer. 3:12; Röm. 11:15, 26).

  Jewe wird Sich Seines Volkes in großer Huld erbarmen (Vers 32). »In aufschäumendem Grimm verbarg Ich Mein Angesicht einen Augenblick vor dir, aber in äonischer Huld erbarme Ich Mich deiner, spricht Jewe, dein Erlöser« (Jes. 54:8; Hos. 6:1).

  Es ist Jewe nicht angenehm, die Menschen zu bedrücken (Vers 33); das ist aber aufgrund der Herzenshärtigkeit des Menschen notwendig, und zwar damit sie umsinnen.

  Viel Leid fügen die Menschen einander zu (Verse 34 - 36); Jewe sieht dies alles und wird es rächen. Alles gebraucht Er aber auch zur Erziehung der Seinen.

  Den Klagenden zum Trost sei gesagt: Wenn Jewe die Übeltäter

richtet – wie viel mehr wird Er Sich der Leidenden annehmen und ihnen wieder aufhelfen.

  Es geschieht überall und allezeit nur das, was Jewe will und gebot (Vers 37). Selbst wenn ein Mensch etwas gebietet und es geschieht, steht Jewes Allmacht und Sein Allesbewirken über allem. »Der Rat Jewes ersteht« (Spr. 19:21). »Geschieht etwas Böses in der Stadt, und Jewe tat es nicht?« (Amos 3:6). Schon bei der Schöpfung galt: »Er sprach, und es geschah; Er gebot, und es stand da« (Ps. 33:9). Ja, »alles, was Jewe gefällt, das tut Er in den Himmeln und auf der Erde« (Ps. 135:6).

  Aus dem Mund Jewes kommt immer nur zum Guten Führendes heraus (Vers 38). Dieser Vers wird meist in der Frageform übersetzt. Bei einer Frage würde aber vor »nicht«, hebräisch LO, ein He stehen und somit HaLO geschrieben stehen. Denken wir an Jakobus 3:11: »Die Quelle sprudelt doch nicht aus demselben Loch süßes und bitteres Wasser!« Gott bringt immer nur Gutes hervor, auch wenn Er zwischenzeitlich das Böse gebraucht (1. Mose 2:9; Jes. 45:7).

 

Umkehr zu Jewe ist nötig

 

39 Was (führt) der Mensch, der Lebende, Wehklage, der mächtige Mann aufgrund seines Verfehlens?

40 Wir wollen erspüren unsere Wege und wollen (sie) untersuchen

und zurückkehren zu Jewe.

41 Wir erheben (Lasst uns erheben) unser Herz samt den Händen

zu dem El in den Himmeln.

42 Wir, wir übertraten und waren erbittert (trotzten),

Du, nicht hast Du verziehen.

43 Du umgabst (Dich) mit Zorn und verfolgtest uns,

brachtest um, verschontest nicht.

44 Du umgabst Dich mit Gewölk,

dass kein Gebet hindurchdrang.

45 Als Kehricht und Verwerfliches setzt Du uns

inmitten der Völker.

46 Wider uns sperrten ihren Mund auf

all unsere Feinde.

47 Ängstigendes und Schrunde (Riss, Spalte) (widerfuhren) uns,

das Zerbrausen und der Zerbruch.

...

 

  Was soll es, Israel, jetzt zu jammern (Vers 39)? Dein Leid ist die gerechte Folge deiner Sünden! Klage über deine Sünden!

  Prüfe und bewerte deinen Lebenswandel; das Ergebnis kann nur sein, zu Jewe umzukehren (Vers 40). Jeremia fleht seine Landsleute an, ihr Verhalten zu ändern und sich Jewe zuzuwenden. Mögen sie Herz und Hände zu dem El der Himmel erheben und Ihn um Rettung bitten (Vers 41). Suchet Jewe und ihr werdet Ihn finden (5. Mose 4:29)!

  Ja, und nun (Vers 42) erkennen und bekennen sie ihre Sünden und ihre Widerspenstigkeit gegen Jewe. Er hatte ihnen nicht verziehen, weil sie nicht bereit waren umzusinnen und nur noch das Gericht übrig blieb, um sie zu ihrem El zurückzuführen. Die Zornesgerichte waren notwendig (Vers 43).

  Während Seiner Gerichte hatte Jewe Seine Ohren vor ihren Gebeten verschlossen (Vers 44). Ein Mensch, der nicht auf die Tora (die Zielanweisung) hört – auch dessen Gebet ist Jewe ein Gräuel (Spr. 28:9). Der Prophet Micha hatte ihnen schon um 730 v. Chr. gesagt, dass Jewe den Frevlern nicht antworten wird (Micha 3:4).

  Israel ist wie Kehricht geworden und ein Abscheu unter den Völkern (Vers 45). Mose hatte es ihnen angekündigt (5. Mose 28:37). Ihre Feinde sprachen höhnisch über sie (Vers 46). Israel ist zerbrochen (Vers 48). Und Tag und Nacht müssen sie Angst haben (5. Mose 28:66).

 

 

 

Jeremia leidet mit

 

48 Rinnsale von Wasser (lässt) mein Auge hinabfließen

aufgrund des Zerbruchs der Tochter meines Volkes.

49 Mein Auge rinnt aus und ruht nicht,

(tränt) ohne zu erstarren (aufzuhören),

50 bis ausschaut und sieht

Jewe von den Himmeln her.

51 Mein Auge nahm meine Seele mit

aufgrund all der Töchter meiner Stadt.

...

 

  Angesichts des Leides all der Töchter, das heißt der Einwohner der Stadt Jerusalem und der Angehörigen seines Volkes, weint und weint Jeremia. Er leidet zutiefst mit ihnen. Sein unaufhörlich fließendes Auge macht seine Seele kahl (so wörtlich in Vers 51), laugte ihn also innerlich völlig aus. Mose sprach sogar davon, dass sie wahnsinnig werden würden aufgrund all dessen, was ihre Augen mit ansehen müssen (5. Mose 28:34).

  Jeremia weiß, dass die Drangsale und die Wegführung nach Babel nicht für immer sind (Vers 50). Wenn Jewe ihre Umkehr sieht, wird Er sie aus all den Völkern zurückbringen (5. Mose 30:2, 3).

 

Rettruf aus großer Not

 

52 Es jagten, ja jagten mich wie einen Vogel

meine Feinde unbegründet.

53 Sie bezähmten mein Leben in der Zisterne

und schleuderten Steine gegen mich.

54 Wasser fluteten über mein Haupt,

ich sprach (zu mir): Abgetrennt (vom Leben) bin ich.

55 Ich rief Deinen Namen, Jewe,

tief unten aus der Zisterne.

56 Meine Stimme hörtest Du, verschließe Dein Ohr nicht

meinem Atemzug, meinem Rettruf.

...

 

  Jeremia war in Todesnähe gewesen (Verse 52 - 54). Seine Feinde waren seine Volksgenossen in den Tagen vor der Eroberung Jerusalems, die seinen Aufruf zur Umkehr nicht hören wollten. Sie hassten ihn ohne Grund, ebenso wie unser Herr Jesus grundlos von den Menschen gehasst wird (Ps. 35:19; 69:5; Joh. 15:25). Sie wollten ihn töten, ja hinrichten lassen und warfen ihn schließlich in eine Zisterne, damit er dort verhungere (Jer. 11:18 - 23; 26:7 - 9; 37:11 - 16; 38:1 - 13).

  Aber selbst dann, wenn man ganz tief unten ist und es keinen Ausweg mehr gibt, dringt das Gebet eines Gerechten zum Höchsten hinauf, dem Einzigen, der retten kann (Ps. 6:9, 10; 130:1).

  Und Jewe erhörte und rettete Jeremia; man zog ihn aus der Zisterne heraus (Jer. 38:13). Ebenso wird Jewe auch Sein Volk retten, wenn es Ihn von Herzen anruft.

 

Jewe Selbst führt den Streit Jeremias gegen seine Bedränger

 

57 Du nahtest an dem Tag, da ich Dich anrief;

Du sprachst: Fürchte (dich) nicht.

58 Du führtest den Streit, mein Herr, die Streite meiner Seele,

Du erlöstest mein Leben.

59 Du, Jewe, siehst mein Gekrümmtsein.

Richte mein Gericht (oder: Rechtsspreche meinen Rechtsspruch).

60 Du siehst all ihre Rachgier,

all ihre Pläne in Bezug auf mich.

61 Du hörst ihr Schmähen, Jewe,

all ihre Pläne gegen mich,

62 die Lippen (meiner) Gegner und ihr Raunen

wider mich all den Tag.

63 Ihr Sitzen und ihr Aufstehen erblicke!

Ich bin ihr Saitengezupf (ihr Spottlied).

64 Du wirst die Vergeltung auf sie bringen, Jewe,

gemäß den Werken ihrer Hände.

65 Du wirst ihnen Verstockung des Herzens geben,

(das ist) Dein Fluch gegen sie.

66 Du wirst sie im Zorn verfolgen und sie vertilgen

hinweg unter den Himmeln Jewes.

...

  Als Jeremia in seiner Not Jewe anrief, erfuhr er den Zuspruch, dass er sich nicht fürchten solle (Vers 57). Sich nicht zu fürchten, hatte Jewe ihm schon zu Beginn seines Dienstes gesagt (Jer. 1:8). Als Jeremia Jewe anrief, wurde er sich dessen Nähe bewusst. Ja, »nahe ist Jewe allen Ihn Anrufenden, allen, die Ihn in Wahrheit anrufen« (Ps. 145:18).

  Jeremia konnte sich nicht selber erlösen, sondern Jewe Selbst stritt für ihn und rettete ihn vor dem Tod in der Zisterne (Vers 58). Ebenso wird Jewe auch Israel erlösen. Er kämpft ihren Kampf, Jewe der Heere ist Sein Name, und wird ihnen Ruhe geben in ihrem Land (Jer. 50:34).

  Und nun ruft Jeremia Jewe erneut an, und zwar, dass Er seinen Feinden vergelte. Jeremias Rechtssache möge Jewes eigene Rechtssache sein (Vers 59). Dies entspricht Psalm 35:23: »Erhebe Dich und erwache für mein Recht, mein Elohim und mein Herr, zum Streiten meines Rechtsstreits.«

  Die ungläubigen Mitbürger Jeremias in Jerusalem waren voller bösen Absichten gegen ihn gewesen (Verse 60 - 63). Viele Ratschlüsse hatten sie gefasst, um ihn zu Tode zu bringen. Jetzt betet er darum, dass Jewe ihnen ihre Sünden nicht vergeben möge, sondern Sein Zorn über sie komme (Jer. 11:19). Sie wetzten ihre Zunge wie eine Schlange, Fieber erregendes Natterngift war unter ihren Lippen (Vers 62: Ps. 140:4; Röm. 3:13).

  Die Vergeltung, die Jeremia erwartet, soll den Werken seiner Feinde entsprechen (Vers 64). Das ist gerecht. Auch der Apostel Petrus schreibt davon, dass der Vater ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk richtet (1. Pet. 1:17). Und schließlich werden alle Nichtauserwählten und folglich Ungläubigen vor dem großen, weißen Thron – weiß ist die Farbe der Gerechtigkeit – nach ihren Werken gerichtet (Off. 20:12). Vergessen wir bei alldem nicht, dass richten Recht erweisen bedeutet und Gottes Gerichte der Zurechtbringung des Sünders dienen.

  Abgesehen von den Gläubigen und Treuen war das Volk Israel seit Jesajas Zeiten bereits allgemein verstockt (Jes. 6:10). Und nun erbittet Jeremia dies in besonderem Maße für seine Gegner, die sich damit auch als Gegner Jewes erwiesen hatten (Vers 65). Es ist ein Fluch, Augen zu haben und trotzdem nichts zu sehen, blind zu sein für Jewe, der sich in der Geschichte Israels doch so vielfältig bekundet hatte.

  Jewe verfolgte die Feinde Jeremias (Vers 66), indem sie in den Wirren der letzten Tage umkamen oder nach der Eroberung Jerusalems von den Babyloniern getötet wurden (Jer. 39:4 - 7; 52:24 - 27).

  Man beachte, dass Jeremia sich nicht persönlich rächt, sondern den darum ersucht, der allein gerecht zu richten vermag. So schreibt auch der Apostel Paulus: »Die mit allen Menschen Frieden halten, rächen sich selbst nicht, Geliebte; sondern gebt dem Zorn Gottes Raum; denn es steht geschrieben (5. Mose 32:35): Mein ist die Rache, Ich werde vergelten, so spricht der Herr« (Röm. 12:18, 19). Wir lieben unsere Feinde (Mat. 5:44). Wir leben in der Gnadenzeit, gewähren allen Gnade (Eph. 4:32) und begegnen allen im Geist der Versöhnung

(2. Kor. 5:18, 19).

 

 

 

 

 

Das furchtbare Geschick Jerusalems

(Klgl. 4 + 5)

 

Kapitel 4

 

Furchtbar ist das Gericht Jewes

 

1 Ach, wie ist dem Gold der Lichtglanz genommen,

ist das gute Gelbmetall verfälscht!

Wie sind die Steine des Heiligtums ausgeschüttet

an den Ecken aller Straßen!

2 Die Söhne Zions, die (einst) kostbaren,

die mit Gleißendem aufgewogenen,

ach, wie sind sie geachtet als Tongefäße,

als Werk von Töpferhänden.

3 Selbst Ungeheuer (Schakale) reichen (ihre) Brust,

säugen ihre Welpen,

(doch) die Tochter meines Volks wurde zur Grausamen,

wie Strauße in der Wildnis.

4 Die Zunge des Säuglings klebt

vor Durst an seinem Gaumen,

die Kinder fragen nach Brot,

keiner reicht es ihnen.

5 Die (einst) Leckerbissen Essenden

sind auf den Straßen verschmachtet,

die auf Karmesinkissen Gehegten

umarmen nun Aschegruben.

6 Und groß war die Vergehung der Tochter meines Volks,

mehr als die Verfehlung Sodoms,

der wie in einem Augenblick umgewendeten Stadt,

und nicht wirkten Hände in ihr dagegen.

7 Durchläutert waren ihre (Jerusalems) Geweihten (Nasiräer), mehr als Schnee,

waren grellweiß, mehr als Milch,

waren rötlich am Gebein, mehr als Korallen,

saphirfarben war ihr Auge (?).

8 Ihr Aussehen ist nun finsterer als Schwarzrotes,

sie werden nicht erkannt auf den Straßen;

es trocknete aus, wurde wie Holz.

9 Gut hatten's die vom Schwert Durchbohrten,

mehr als die vom Hunger Durchbohrten,

die als Durchstochene ausflossen,

fern von der Frucht des Feldes.

10 Die Hände barmherziger Frauen

kochten ihre Kinder;

Sie wurden ihnen zur Ernährung

beim Zerbruch der Tochter meines Volks.

11 Jewe vollendete Seinen hitzigen Zorn,

ergoss das Entbrennen Seines Zorns;

und Er ließ Feuer anzünden in Zion,

und es fraß (sogar) ihre Grundfesten.

12 Nicht hatten die Regenten der Erde geglaubt,

alle Bewohner des Landes der Erde,

dass der Bedränger und Feind je eindringen würde

in die Tore Jerusalems.

...

 

  Der Tempel ist verbrannt, das Gold geplündert (Vers 1; 2. Kön. 25:9) – Betrübnis über Betrübnis! Die einst mit Gold verglichenen kostbaren Söhne Judas werden jetzt geringgeschätzt wie Töpfergefäße (Vers 2). Noch schmerzlicher ist diese Tatsache, wenn man bedenkt, dass das Volk Jewes kostbares »Sondergut«, Gottes »besonderes Eigentum« (2. Mose 19:5) ist. Die Frauen waren vor Hunger herzlos geworden wie Strauße (Vers 3), die ihre Jungen behandeln, als wären es nicht ihre (Hiob 39:16; Klgl. 2:20; 4:10). Der Hunger hatte im Lauf der zweijährigen Belagerung überhand genommen (Vers 4; Jer. 52:6).

  Der Grund für all das Elend war die Sünde Jerusalems (Vers 6); sie hatten es schlimmer getrieben als Sodom. Leider hat der ungläubige Teil Israels nichts aus der Katastrophe des Jahres 587 v. Chr. gelernt; so wird auch künftig manche Stadt die Botschaft der Jünger Jesu ablehnen. Über diese Städte sagt unser Herr Jesus Christus: »Wahrlich, Ich sage euch: Am Tage des Gerichts wird es dem Land Sodom und Gomorra erträglicher ergehen als jener Stadt« (Mat. 10:15).

  Die einst gut aussehenden Menschen waren nicht mehr wiederzuerkennen; ihre Haut war eingefallen und verrunzelt (Verse 7 + 8). Selbst die mildherzigsten Mütter konnten nicht umhin, ihre Kinder zu essen (Vers 10; Klgl. 2:20; 4:3). Mose hatte dies dem Volk für den Fall der Untreue angedroht (3. Mose 26:29; 5. Mose 28:53 - 57).

  Kein König im ganzen Vorderen Orient hätte gedacht, dass Jerusalem bezwungen werden könnte (Vers 12). Die Stadt war zwar schon dreimal ausgeraubt worden – im Jahr 941 v. Chr. vom Pharao (1. Kön. 14:25 - 28), etwa um 862 v. Chr. von den Philistern und Arabern (2. Chron. 21:16, 17) und etwa um 812 v. Chr. von König Joasch von Israel (2. Kön. 14:13, 14) – aber die Mauern waren wieder aufgebaut und verstärkt worden, sodass die Stadt für uneinnehmbar galt, zumal es den Assyrern zwischen 714 und 707 v. Chr. nicht gelungen war, sie einzunehmen (2. Kön. 18:13; 19:32). Und die Wasserzuführung war aufgrund des Tunnels Hiskias sichergestellt.

  Wie also konnte es dem Nebukadnezar gelingen? Weil Juda den Bund mit Jewe verlassen und anderen Elohim gedient und somit den Zorn Jewes herausgefordert hatte (5. Mose 29:23 - 27).

 

Die Schuld der Propheten und Priester

 

13 Aufgrund der Verfehlungen ihrer Propheten,

der Vergehungen ihrer Priester,

die in ihr (der Stadt) ausschütteten

das Blut der Gerechten,

14 wankten sie blind durch die Straßen,

waren besudelt mit Blut,

nicht konnte man berühren

ihre Kleidung.

15 Kehrt euch ab! Unrein! [rief man sich zu.] Kehrt euch ab!

Kehrt euch ab! Berührt nicht!

Wenn sie sich zusammentaten, auch noch wankten [sprach man unter den Nationen]:

Nicht (sollen) sie fortfahren, (hier) zu weilen!

16 Das Angesicht Jewes zerstreute sie,

nicht fährt Er fort, sie anzublicken.

Das Angesicht der Priester erhob (achtete) man nicht,

die Alten begnadete (schonte) man nicht.

...

  Die Propheten und Priester (Klgl. 2:14) handelten allesamt in Falschheit und dachten nur an ihren eigenen Vorteil (Jer. 5:31; 6:13). Es machte ihnen nichts aus, das Blut von Gerechten zu vergießen (Vers 13). Die Folge war, dass alle Einwohner von Jerusalem mitgerissen wurden, beim falschen Spiel mitmachten – das Volk liebte es sogar (Jer. 5:31) – und eventuell auch über Leichen gingen (Vers 14). So waren alle mit Blut besudelt und mithin unrein, sodass man sich von ihnen wie von Aussätzigen fernhielt.

  Wie blind waren sie durch die Straßen Jerusalem gewankt, und mehr noch unter den Nationen (Vers 15), wo ihr Fuß keinen Ruheort fand (Klgl. 1:3), wo ihre Herzen bebten, ihre Augen verloschen und ihre Seele verschmachtete (5. Mose 28:65).

  Jewe war es, der sie unter die Nationen zerstreut hatte (3. Mose 26:33), auch die Propheten und Priester, die das Volk zur Treue gegenüber Jewe hätten anleiten sollen. Die Nationen achteten weder die Priester noch die Alten (Jews. 47:6) nicht im Geringsten (Vers 16). Wegen ihrer Verfehlungen verbarg Jewe Sein Angesicht vor allen Israeliten (Jes. 59:2). Es ist schrecklich, nicht mehr angeblickt zu werden!

 

Die Verfolgung und ihr Ende

 

17 Noch schmachten sie, ja sie, unsere Augen,

nach unserer Hilfe, die Dunst ist.

Auf unserer Warte spähten wir

nach einer Nation – die nicht rettet.

18 Man jagte unsere Schritte,

dass wir auf unseren Plätzen kaum gehen konnten.

Unser Ende nahte, erfüllt waren unsere Tage,

denn unser Ende war gekommen.

19 Unsere Verfolger waren flinker

als die Geier der Himmel;

auf den Bergen hetzten sie uns,

in der Wildnis lauerten sie uns auf.

20 Der Odem unserer Atemzüge, der Gesalbte Jewes,

wurde in ihren Gruben gefangen,

von dem wir sprachen: In seinem Schatten

werden wir leben unter den Nationen.

21 Habe Wonne und freue dich, Tochter Edom,

Bewohnerin des Landes Uz!

Auch noch auf dich zu geht der Becher über,

du wirst dich berauschen und entblößen.

22 Zum Abschluss gekommen ist deine Vergehung, Tochter Zion!

Er fährt nicht fort, dich zu verschleppen.

Er sucht deine Vergehung heim, Tochter Edom,

Er enthüllt deine Verfehlungen.

...

 

  Israel hatte auf die Hilfe einer Nation gehofft (Vers 17), und zwar Ägyptens. Das hatte sich als Dunst erwiesen und war ihnen zur Schande geworden (Jes. 30:3). Jeremia und Hesekiel hatten davor gewarnt. Das Heer des Pharaos, das zur Hilfe ausgezogen war, war nach Ägypten umgekehrt (Jer. 37:7; Hes. 29:6, 7).

  Es ist gut, auf Jewe zu vertrauen und nicht auf die Nationen.

  Und nun jagten die Babylonier jeden Israeliten, den sie finden konnten (Verse 18 + 19). Ihre Rosse waren schneller als Leoparden (Hab. 1:8).

  Der Gesalbte Jewes (Vers 20), über dessen Haupt Öl ausgegossen wurde zum Zeichen dafür, dass Elohim ihn bevollmächtigt hat, war der jeweilige König, damals Zedekia (598 - 587 v. Chr.). Unter dem Schirm und Schatten, unter dem Schutz des Gesalbten sollte man in Frieden wohnen und frei atmen. Doch die Zeit war reif für das Gericht gewesen. Deshalb musste Jerusalem fallen und wurde Zedekia von Nebukadnezar gefangen genommen (2. Kön. 25:4 - 7; Jer. 39:5; 52:9; Hes. 12:13).

  Mit Vers 21 wird Edom, den Nachkommen Esaus, das Gericht angekündigt. Mögen sie jetzt durchaus noch fröhlich sein. Sie hatten sich in der Zeit der Eroberung Jerusalems auf Kosten ihrer Blutsverwandten bereichert; das kann nicht ungesühnt bleiben (Hes. 25:12 - 14; 35:5; Obad. 10, 12, 15).

  Das Land Uz, in dem einst Hiob wohnte (Hiob 1:1), gehörte damals zu Edom.

  Das dem Jeremia gegenwärtige Gericht über Zion ist mit der Verschleppung nach Babel abgeschlossen (Vers 22). Die für die beiden kommenden Äonen bleibende Erlösung Israels durch Jesus, den gerechten Spross Davids, steht noch aus (Jer. 23:5 - 8).

 

Kapitel 5

 

Gedenke, Jewe!

 

1 Gedenke, Jewe! Was ist's, das uns geschah?

Blicke her und sieh unsere Schmach!

2 Unser Losteil fiel an Fremde,

unsere Häuser an Ausländer.

3 Verwaiste wurden wir, ohne Vater,

unsere Mütter sind wie Witwen.

4 Unser Wasser trinken wir gegen Silber,

unser Holz kommt gegen einen Kaufpreis.

5 Auf unseren Hals zu sind wir verfolgt,

wir ermüden uns, (aber) uns ist keine Ruhe (gegönnt).

6 Ägypten reichten wir die Hand,

auch Assur, um durch Brot satt zu werden.

7 Unsere Väter verfehlten, sie sind nicht mehr da;

wir – mit ihren Vergehungen bebürdeten wir uns.

8 Diener herrschen über uns,

niemand reißt aus ihrer Hand.

9 Gegen unsere Seele (unter dem Risiko des Lebens) holen wir unser Brot

angesichts des Schwertes der Wildnis.

10 Unsere Haut ist wie ein Ofen, siedend

aufgrund des grimmigen Hungers.

11 Frauen demütigte man in Zion,

Jungfrauen in den Städten Judas.

12 Fürsten wurden von ihrer (der Feinde) Hand erhängt,

die Angesichter der Alten wurden nicht mit Prunk umgeben.

13 Erwählte (heerestaugliche Jünglinge) müssen die Handmühle tragen,

und Jünglinge straucheln unter (der Last des) Holzes.

14 Die Alten schwanden vom Tor,

die Erwählten von ihrem Saitenspiel.

15 Die Wonne unseres Herzens hörte auf,

in Trauer gewandelt wurde unser Wirbeltanz.

16 Gefallen ist die Krone unseres Hauptes.

Wehe doch uns, denn wir verfehlten!

17 Darob wurde unser Herz blutnässend,

darob wurden unsere Augen finster

18 wegen des Berges Zion, der öde wurde;

Füchse streifen auf ihm umher.

19 Du, Jewe, für äonisch hast Du (Deinen) Sitz,

Dein Thron ist für Generation und Generation.

20 Warum vergisst Du uns für Dauer,

verlässt uns für (eine) Länge von Tagen?

21 Mache, dass wir zurückkehren, Jewe, zu Dir, und wir werden zurückkehren.

Erneuere unsere Tage wie zur Vorzeit.

22 Ob Du uns denn verworfen hast, um uns zu verwerfen,

über uns ergrimmt wurdest bis zum Übermaß?

...

 

  Das Kapitel fünf ist ein Gebet des Überrests Israels. Jewe, gedenke unser! Unsägliches geschah uns! (Vers 1). Die zur Umsinnung Gelangten – das Gericht hat also Frucht gebracht! – flehen darum, dass Jewe Sich nicht abwenden, sondern herblicken und Sich ihrer erbarmen möge. Das Elend, das Jewe erblickt, muss Sein Herz berühren, sodass Er ihnen aus all der Not heraushilft.

  Israels Losteil, ihr Land, das Jewe ihnen verheißen und gegeben hatte, hat Er ihnen wieder genommen (Vers 2). Ausländer bewohnen jetzt ihre Häuser; Jeremia hatte es ihnen prophezeit (Jer. 6:12).

  Das ganze klein gewordene Volk ist wie eine Waise (Vers 3), rechtlos und ohne Führungskräfte, wehrlos und schutzlos wie Witwen und Waisen, wie Mose es ihnen angekündigt hatte (2. Mose 22:23). Das Gesetz des Mose hatte den Witwen und Waisen Schutz und Fürsorge zugesichert (5. Mose 14:29; 24:19; 26:12). Damit war es vorbei.

  Selbst die gewöhnlichsten Dinge des alltäglichen Bedarfs, wie Wasser und Brennholz, müssen sie teuer bezahlen (Vers 4). Hesekiel sprach davon, dass sie Brot in eingeteilten, kleinen Mengen essen und in Bangigkeit Wasser trinken werden (Hes. 4:16).

  Jeder Schritt der Israeliten war von Angst und Bedrückung begleitet (Vers 5). Ein Joch aus Eisen hatte man auf ihren Hals gelegt (5. Mose 28:48). Sie arbeiten bis zum Umfallen und finden keine Ruhe (Klgl. 1:3).

  Die Pendelpolitik, sich mal mit Ägypten und mal mit Assur zu verbünden, war Unglaube und hatte zu ihrem Untergang beigetragen (Vers 6); auf den Heiligen Israels hatten sie nicht geachtet und Sein Wort nicht erfragt (Jes. 30:2; 31:1; Jer. 2:18; Hos. 5:13).

  Die Überlebenden tragen die Schuld ihrer Väter (Vers 7), allerdings nicht zu Unrecht, denn auch sie selbst hatten gesündigt (Vers 16) und büßen auch für ihre eigene Schuld. Jewe, der Elohim Israels, sucht die Vergehung der Väter an den Söhnen, an den dritten und vierten Gliedern der Ihn Hassenden heim (2. Mose 20:5; 5. Mose 5:9). Jeremia betont ergänzend: »Und ihr, ihr tatet Böses, mehr als eure Väter« (Jer. 16:11). Die gerechten Nachkommen aber werden leben (Hes. 18:4, 9, 17, 19). Im Königreich wird es so sein, dass ein jeder nur für seine eigene Vergehung stirbt (Jer. 31:29, 30; Jes. 65:20).

  Es ist schon normalerweise kaum zu ertragen, wenn ein Knecht herrscht (Vers 8; Spr. 19:10; 30:22); wie viel mehr müssen die Israeliten unter der brutalen Hand der babylonischen Knechte leiden.

  Wenn sie notgedrungen in der Wildnis etwas einsammeln, müssen sie damit rechnen, vom Schwert der dort Zeltenden oder Hindurchziehenden erschlagen zu werden (Vers 9). Sie sind ja von allen geachtet wie Schlachtschafe. »So wie geschrieben steht: Deinetwegen werden wir den ganzen Tag zu Tode gebracht, wie zu den Schlachtschafen werden wir gerechnet« (Röm. 8:36; Ps. 44:23).

  Auch der Rückblick der Verse 11 und 12 ist grausam: Die Frauen waren vergewaltigt, die Edlen gehängt, die Alten erniedrigt worden.

  Die jungen Männer, einst die Hoffnung des Volkes, sind zu Sklaven geworden (Vers 13). Die Handmühle zu mahlen, ist entehrend, weil es Frauenarbeit war.

  Im Stadttor trafen vordem die Ältesten ihre Entscheidungen (Vers 14; 5. Mose 16:18). Nun aber hat Jewe die Stimme der Freude und Wonne verloren gehen lassen (Jer. 25:11; Hos. 2:13) und all ihre Feste zu Trauer verwandelt (Vers 15; Amos 8:10).

  »Gefallen ist die Krone unseres Hauptes« (Vers 16). Damit ist sicherlich nicht nur die Pracht und Herrlichkeit ihrer Hauptstadt gemeint, sondern auch das Ansehen, die Ehre der Israeliten unter den Völkern. Ja, sie erkennen und bekennen: Sie hatten gesündigt und das Gesetz des Mose übertreten und mithin den Bund mit Jewe gebrochen (Jes. 59:12; Jer. 31:32). Ja, sie sehen es ein: Jewes Gericht ist gerecht. »Wehe uns!« (Vers 16 b).

  Der Berg Zion ist öde geworden (Vers 18), das Herz Israels wurde eine Wildnis (Jes. 64:9), wie Jeremia prophezeit hatte: »Dieses Land wird zur verwüsteten Stätte, ja zur Verödung, und diese Nationen werden dem König Babels siebzig Jahre dienen« (Jer. 25:11). Darüber ist das Herz der Israeliten siech geworden (Vers 17; Klgl. 1:22), und das Licht in ihren Augen erlosch (5. Mose 28:65).

 

Das Gebet der Überlebenden um Wiederherstellung der Nation

 

  Die Verse 19 bis 22 stellen den Abschluss des Gebets wie auch der Klagelieder überhaupt dar und bringen sehr bedeutsame geistliche Tatsachen zur Sprache.

  Israels Thron ist niedergerissen, Jewes Thron aber besteht (Vers 19). Die Verschleppten wenden sich huldigend an Jewe, den, der da war und der da ist und der da kommt, den alles Werdenmachenden: »Du, Jewe, für äonisch hast Du (Deinen) Sitz, Dein Thron ist für Generation und Generation.« Sie wenden sich an den »äonischen Gott« (Röm. 16:26), den Verfüger über alle Äonen, der unvergänglich ist (1. Tim. 1:17) und dessen Königsherrschaft für alle Zeiten besteht.

  Mithin kann die Rettung nur von Ihm kommen, ja sie kommt von Ihm, weil nur Er dazu imstande ist und weil sie dem Volk Israel verheißen ist (1. Mose 12:2; Jes. 60:1, 21). Der, der Sein Volk fast vernichtet hat (Klgl. 4:11), hat auch die Macht, das Königreich wiederherzustellen. Es ist doch so, wie es geschrieben steht: »Du, Jewe, bist unser Vater, unser Erlöser vom Äon an, Dein Name ist's« (Jes. 63:16). »Deine Regentschaft ist Regentschaft in allen Äonen, und Deine Herrschaft währt für alle Generation und Generation« (Ps. 145:13; Ps. 146:10; Heb. 1:8).

  »Warum vergisst Du uns für Dauer, verlässt uns für (eine) Länge von Tagen?« (Vers 20). Warum gedenkt Jewe ihrer nicht? Weil sie schwer gesündigt und den Bund gebrochen haben; und das wissen sie auch ganz genau. Dies aber wissen sie ebenfalls: Wenn sie ihre Verfehlungen bekennen, wird Er ihrer wieder gedenken (3. Mose 26:40 - 42). – Dieser Vers ist mithin keine Frage, sondern die Bitte, sie nicht allzu lange zu verlassen. Die Antwort finden wir in Jesaja 54:7, 8: »In einem kleinen Augenblick verließ Ich dich, aber mit großen Erbarmungen schare Ich dich (wieder zusammen). In aufschäumendem Grimm verbarg Ich Mein Angesicht einen Augenblick vor dir, aber mit äonischer Huld erbarme Ich Mich deiner, spricht Jewe, dein Erlöser.«

  »Mache, dass wir zurückkehren, Jewe, zu Dir, und wir werden zurückkehren. Erneuere unsere Tage wie zur Vorzeit« (Vers 21). Wer ist der Handelnde, Israel, das da im Herzen umkehrt und in sein Land zurückkehrt, oder Jewe, der dies alles bewirkt haben wird? Jewe ist es, der da alles bewirkt nach dem Ratschluss Seines Willens (Eph. 1:11); Er ruft alle Gedanken und Entscheidungen hervor. An Jewes Willen liegt alles Gelingen; darum auch die Bitte in Jeremia 31:18: »Mache mich umkehren, und ich will umkehren, denn Du bist Jewe, unser Elohim.« Ihr Elohim ist der alles Verfügende und Durchführende.

  Israel wird erneuert werden, denn so spricht Jewe: »Und seine (Israels) Söhne werden wie zur Vorzeit, und seine Zeugenschar wird vor Meinem Angesicht bereitet« (Jer. 30:20). Ja, das auserwählte Volk wird ein königliches Priestertum (oder: eine regierende Priesterschaft) und eine heilige Nation sein (1. Pet. 2:9).

  »Ob Du uns denn verworfen hast, um uns zu verwerfen, über uns ergrimmt wurdest bis zum Übermaß?« (Vers 22). Ist Jewe so sehr ergrimmt, dass die Verwerfung eine unverrückbare, unwiderrufliche ist? Israel hat das Herz Jewes durch unvorstellbare Sünden zutiefst gekränkt. Ist es jetzt aus mit diesem Volk? Nein, Gott verstößt Sein Volk nicht (Röm. 11:1). Es ist immer »ein Überrest nach der Gnadenauswahl vorhanden« (Röm. 11:5). »Ich verwerfe euch nicht«, spricht Jewe (3. Mose 26:44; s. a. Ps. 60:3). Der Apostel Paulus schreibt: »Wenn aber schon ihre Kränkung der Welt Reichtum ist und ihr Niedergang der Reichtum der Nationen, wie viel mehr wird es ihre Vervollständigung werden!« (Röm. 11:12). »Denn wenn ihre jetzige Verwerfung der Welt Versöhnung ist, was wird ihre Wiederannahme sein, wenn nicht Leben aus den Toten?« (Röm. 11:15).

  Und einen neuen Bund wird Gott mit Israel schließen, den Bund in Jesu Blut (Mat. 26:28; 1. Kor. 11:25). »Dies aber ist der Bund, den Ich mit dem Haus Israel nach jenen Tagen schließen werde, sagt der Herr. Ich werde Meine Gesetzt in ihre Denkart geben und sie auf ihre Herzen schreiben, und Ich werde ihnen zum Gott sein, und sie werden Mir zum Volk sein. Dann wird keinesfalls ein jeder seinen Mitbürger und ein jeder seinen Bruder belehren  wollen und sagen: Erkennen den Herrn! Denn alle werden mit Mir vertraut sein, vom Kleinen bis zum Großen unter ihnen. Denn Ich werde ihrer Ungerechstigkeit versühnt sein und ihrer Sünden  und ihrer Gesetzlosigkeiten keinesfalls noch länger gedenken« (Heb. 8:18 - 12; Jer. 31:33, 34).

  Israel betet: »Sei nicht ergrimmt, Jewe, bis zum Übermaß, und gedenke nicht der Vergehung bis in (weitere Zeiten des) Bezeugens. Ja, blicke (uns) doch an, Dein Volk sind wir alle« (Jes. 64:8). Jewe wird diese Bitte erhören; Seine Liebe und Treue wird Seinem Volk die Rettung bringen, ja den Retter, Jesus!

 

 

Dieter Landersheim

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