„Der reiche Mann und Lazarus“
(das Gleichnis der Judenverfolgung)
(Lukas 16:19-31)
Die Erzählung vom reichen Mann und Lazarus ist ein Gleichnis, und die Gleichnisse der Schrift dürfen nicht wörtlich genommen werden. Dass es sich hier um ein Gleichnis handelt, geht schon daraus hervor, dass die Erzählung vom reichen Mann und Lazarus in eine Serie von Gleichnissen eingebettet ist. Die Zürcher Bibelübersetzung hat auch eine dementsprechende Überschrift über diesem Abschnitt, und die Elberfelder Übersetzung führt die Erzählung vom reichen Mann und Lazarus im Anhang unter der Überschrift »Die Gleichnisse Jesu« auf. Leider wollen jedoch heute viele Lukas 16:19-31 nicht als fünftes Gleichnis dieser Gruppe gelten lassen, sondern sie glauben, hier liege eine in sich abgeschlossene Rede unseres Herrn Jesus vor, die ohne Beziehung zu dem vorher Gesagten stehe. Sie meinen, der Herr schildere hier ganz unvermittelt die Erlebnisse zweier Menschen, die gerade verstorben sind und sich im sogenannten »Zwischenzustand« befinden. Andere wiederum schließen aus Lukas 16, unmittelbar nach Eintritt des Todes gelange der eine in den Genuss der »Seligkeit«, der andere aber in die Qual des »Höllenfeuers«.
Niemand geht jedoch so weit, jeden Punkt in diesen dreizehn Versen
ganz wörtlich zu nehmen. Niemand schreibt einen Aufsatz, um die Menschen
unserer Tage aufzurütteln und mit den hier berichteten Einzelheiten über
die »Seligkeit« des Lazarus und über die Pein des reichen Mannes vertraut zu
machen, damit jeder weiß, was ihm bevorsteht. Kein Evangelist kündigt eine
Bibelwoche über diese Rede des Herrn Jesus an, um sie in aller Ausführlichkeit,
Punkt für Punkt, durchzusprechen. Warum nicht? Würde man jeden dieser
dreizehn Verse gründlich besprechen, so müssten die Zuhörer zu dem Schluss
kommen, dass Armut, Hunger und Krankheit in diesem Leben eine Garantie für die
zukünftige »Seligkeit« seien, ein Leben herrlich und in Freuden, in
Gesundheit und Wohlstand hingegen »ewige Verdammnis« nach sich ziehe.
Um solch eine Irrmeinung nicht aufkommen zu lassen, wird der Redner
vielmehr mit aller Entschiedenheit betonen müssen, dass der unerlöste Arme
demselben Schicksal entgegengeht wie der unerlöste Reiche; und wenn man ihn
danach fragen würde, müsste er zugeben, dass einem Reichen, der als Gläubiger
stirbt, sein Wohlstand ebenso wenig zum Verderben gereichen wird wie einst
Abraham, der bekanntlich sehr reich war.
Für denjenigen, der in dem Abschnitt Lukas 16:19-31 nicht ein Gleichnis,
sondern einen Tatsachenbericht sieht, ergeben sich laufend Widersprüche zur
heutigen Evangeliumsverkündigung. Deshalb möchten wir versuchen zu zeigen,
dass eine bessere Auslegung alle Schwierigkeiten beseitigt. Der Schlüssel zu
einem klaren Verständnis liegt in dem letzten Satz: »Wenn sie nicht auf Mose
und die Propheten hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn
jemand aus den Toten aufersteht« (16:31). Damit wissen wir aus dem Mund unseres
Herrn, in einen Ausspruch Abrahams gekleidet, wo auch wir nachzulesen haben,
damit wir eine Antwort auf unsere Fragen erhalten.
Wer sich aber von dem im Alten Testament Geschriebenen nicht überzeugen
lassen will, wird selbst dann nicht glauben, wenn jemand aus den Toten auferstünde,
so fügte der Herr damals hinzu. Und es ist nicht von ungefähr, dass Er kurze
Zeit danach in aller Öffentlichkeit Lazarus von Bethanien aus den Toten
auferweckte.
Was sagen nun Mose und die Propheten über den Todeszustand? Hat der
auferweckte Lazarus das dort Gesagte bestätigt? - Beides wollen wir
untersuchen, bevor wir uns wieder Lukas 15 und 16 zuwenden.
Was hätten wohl die Hebräer auf die Frage erwidert, wo die Seele im Tod hingeht? Sie hätten vermutlich mit einem Achselzucken geantwortet: in den »Scheol«. Dies bedeutet soviel wie »fraglich«. Und hätten die Jünger des Herrn ihre Antwort auf Griechisch gegeben, so hätten sie das entsprechende Wort in dieser Sprache gebraucht: »Hades«, wörtlich »das Ungewahrte« oder »Unwahrnehmbares«.
Als Beweis dafür, dass »Hades« die inspirierte Übersetzung von »Scheol« ist, möge ein Zitat aus Psalm 16 dienen, das Petrus in seiner Pfingstpredigt anführte: »... weil Du meine Seele nicht im Ungewahrten [Hades] lassen wirst ...« (Ap.2:27,31). Einige Verse weiter gebraucht er ähnliche Worte, als er von Christi Auferstehung sprach: »Weder wurde Er im Ungewahrten [Hades] gelassen ...« Petrus sagte hier »Hades«, weil er nach der Septuaginta [Die Septuaginta ist die griechische Übersetzung des sog. Alten Testaments. Sie wurde zur »Bibel« des jüdischen Volkes, das zu Zeiten des Herrn griechisch und aramäisch sprach.] zitierte; in Psalm 16:10 lautet dieses Wort: »... weil Du meine Seele nicht im Ungewahrten [Scheol] lassen wirst.«
In diesem Zusammenhang seien noch einige weitere Stellen angeführt, wo
»Seele« mit »Scheol« in Verbindung gebracht wird:
Psalm
30:3
Jewe, Du hast meine Seele vom Ungewahrten [Scheol]
heraufgebracht.
Psalm
49:16
Doch Elohim wird meine Seele loskaufen aus der Hand des Ungewahrten [Scheol].
Psalm
86:13
Du hast meine Seele vor dem Ungewahrten [Scheol] drunten geborgen.
Psalm
89:48
Welcher Mann würde leben und nicht den Tod gewahren, könnte sich seine
Seele aus der Hand des Ungewahrten [Scheol] befreien?
Spr.23:14
Du ... errettest seine Seele von dem Ungewahrten [Scheol].
1.Sam.2:6
Jewe tötet und macht lebendig, Er führt in das Ungewahrte [Scheol] und
wieder herauf.
Nie wird der Geist des Menschen nach dem Tod im Ungewahrten
gefunden, auch nicht der Körper. Nur bei einer so ungewöhnlichen
Begebenheit wie bei dem Gericht über die Rotte Korah, als die Menschen lebendig
in das Ungewahrte hinabfuhren, und bei Jona, der sein Ungewahrtes im Bauch des
Fisches fand, macht die Schrift hierin eine Ausnahme.
Der Hebräer sah im Tod eine Rückkehr und hatte dabei
Schriftstellen wie die folgenden im Sinn:
1.Mose
3:19
Denn du bist Erdreich, und zum Erdreich wirst du zurückkehren.
Hiob
10:9
Du willst mich wieder zu Erdreich zurückkehren lassen.
Hiob
30:23
Denn
ich habe es erkannt, zum Tod führst Du mich
zurück
(wörtl.: kehrst
Du mich
zurück).
Psalm
9:18
Die Frevler werden ins
Ungewahrte [Scheol]
zurückkehren.
Psalm
104:29
Sie sterben und kehren
zurück zum
Erdreich.
Psalm
146:4
... er
kehrt wieder
zu seiner Erde zurück.
Pred.
12:7
Und der Staub kehrt
zur
Erde zurück
... und
Geist
geht zu Gott zurück, der ihn gegeben hat.
Was
ist der
Tod?
Wollen
wir also wissen, was der Tod ist, so bleiben wir am besten bei
dem Wort Gottes selbst; Er hat wiederholt den Tod
als Riickkehr
bezeichnet,
und Er hat nicht nur vom Körper gesagt, dass er zu
seinem Ursprung zurückkehrt. Dies gilt für Körper, Geist und Seele.
Die letztere ist jedoch keine Substanz an sich, sondern vielmehr
das Ergebnis der Vereinigung des Geistes mit dem Körper, wie
wir es in
1.Mose
2:7 lesen: »... und
der Mensch wird zu einer lebendigen
Seele.« Sobald diese Vereinigung nicht mehr besteht, kehrt die Seele in
das Ungewahrte (Scheol) zurück, woher sie kam.
Eine
große Anzahl von Ausdrücken, die Gott in Seinem Wort gebraucht,
werden nicht klar und bestimmt genug verstanden. Nur selten
unterzieht sich jemand der Mühe, ihre tatsächliche Bedeutung
zu ermitteln. Die beiden Begriffe »Scheol« und »Hades« allerdings will man
unbedingt genauer erklären, als Gott es getan hat,
dabei bezeichnen sie einfach etwas Verborgenes, Dunkles, Unbestimmtes,
Fragliches,
Nicht-Wahrnehmbares. Über
die buchstäbliche
Bedeutung des Wortes »Hades« gibt es keinen Zweifel. Es besteht aus der
verneinenden Vorsilbe a-
(un-) und
der Wurzel id-
(wahrnehmen). Der
»Hades« ist also das Ungewahrte,
wo die Seele
verbleibt, das heißt, wie dieser unwahrnehmbar ist, solange der Geist nicht den
Körper belebt. Ohne die Vereinigung der beiden Letztgenannten ist diese nicht
vorhanden.
Zur
Illustration dieses Sachverhalts wird zuweilen ein Beispiel aus
dem alltäglichen Leben angeführt: Man vergleicht den Körper des
Menschen mit einer Glühbirne und den Geist mit dem elektrischen
Strom. Sobald dieser eingeschaltet wird, weisen die verschiedenen
Glühbirnen unterschiedliche Leuchtkraft auf und strahlen
geringere oder größere Wärmemengen aus. Das Prinzip, nach
dem sie funktionieren, ist bei ihnen allen ebenso gleich wie das
Lebensprinzip bei den Menschen; dieser mag eine unbedeutende
oder überragende Persönlichkeit sein, je nachdem wie er »gebaut«
ist. So gibt es auch Glühbirnen, die für 15 Watt oder auch für 100 Watt
eingerichtet sind; aber ihr mattes Licht oder ihre strahlende
Helligkeit ist nur wahrnehmbar, wenn der elektrische Strom fließt.
Was sollte man nun einem Kind antworten, wenn es fragt, wo das Licht geblieben ist, nachdem man den Strom abgeschaltet hat? Könnten
wir da anders erwidern als mit einem Achselzucken (wie es der Hebräer tun würde,
fragte man ihn nach dem Verbleib der Seele)? Würden wir nicht versuchen,
dem Kind klarzumachen, dass das Licht nur solange
wahrnehmbar
ist, wie der Strom im Glühkörper
wirkt?
Harmoniert
dies nicht mit der Tatsache, dass die Seele des Menschen, das heißt sein
Bewusstsein, sein Empfindungsvermögen, nur existiert, solange
der Geist im Körper wirkt?
Wenn wir glauben, was
auf dem ersten Blatt der Bibel steht, nämlich dass sich die lebende
Seele erst aus der Vereinigung der beiden ergibt, ist eigentlich
die Frage müßig, wo die Seele vor der Geburt des Menschen war
und wo sie während des Todeszustands verbleibt. Beides ist eben
nicht wahrnehmbar, und Gott lässt uns darüber im Dunkeln.
Mögen
wir doch einfach glauben, wie es die Heilige Schritt sagt, dass
die Bestandteile des Menschen im Tod
zu ihrem
früheren Zustand
zurückkehren,
der Körper
zum Erdboden, und der Geist zu Gott,
der ihn gab. Dass diese zwei kein
Bewusstsein hatten,
bevor Er
sie
vereinigte, liegt auf der Hand. Deshalb kann es auch weder für den Körper noch
für den Geist im Tod Bewusstsein geben. Dies ist der
Grund, warum die Schrift diesen unbewussten Todeszustand mit
dem Schlaf vergleicht.
Denken,
wollen, fühlen und handeln kann der Mensch nur, wenn
und solange der Geist seinen Körper belebt. Wenn wir uns darüber
klarwerden, dass der Geist
es
ist, der das Leben
mitteilt,
und dass die Seele
der
Sitz des Bewusstseins
ist,
sind auch die nachfolgenden Schriftworte über den Todeszustand verständlich:
Hiob
3:13
Denn
dann läge ich jetzt da und wäre still. -
Ich schliefe,
dann hätte ich Ruhe.
Hiob
3:18
Sorglos
sind die Gefangenen allesamt, sie hören nicht
mehr die Stimme des Treibers.
Hiob
Ein
Mann aber stirbt und liegt da; und ein Mensch
14:10-13
verscheidet,
und wo ist er dann?
Die
Wasser verrinnen aus dem Meer, und der Fluss
trocknet aus und versiegt;
so
legt der Mensch sich hin und steht nicht wieder auf.
Bis der Himmel nicht mehr ist, erwacht er nicht und
wird nicht aufgeweckt aus seinem Schlaf. Dass Du mich doch im Ungewahrten [Scheol]
verstecktest, mich verbärgest, bis Dein Zorn
sich abwendete, mir ein Ziel setztest und dann meiner gedächtest.
Hiob
30:23
Denn ich habe es erkannt, zum Tod führst Du
mich
zurück,
und in das Versammlungshaus alle Lebendigen.
Psalm
6:6
Denn
im Tode gedenkt man Deiner nicht; wer
huldigt Dir im Ungewahrten [Scheol]?
Psalm
31:18
Beschämt werden die Frevler,
und sie werden stille sein im Ungewahrten [Scheol].
Psalm
115:17
Die Toten werden Je nicht loben,
noch alle, die zum Schweigen hinabgehen.
Pred.
9:5
Die
Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die
Toten aber wissen gar nichts,
und
sie haben keinen Lohn mehr,
denn ihr Andenken ist vergessen.
Jes.
38:10
Ich,
ja ich sagte:
Auf
der Höhe meiner Tage gehe ich in die Tore des Ungewahrten
[Scheol], .
. . nicht sehen soll ich die Rettung
Je's. Je ist im Lande der Lebenden ...
Und
nicht erblicke ich weiterhin einen Menschen, wenn
bei den Bewohnern der Vergänglichkeit ich aufhöre
zu schauen.
Jes. 38:18
Denn nicht das Ungewahrte [Scheol]
huldigt Dir. Noch wird der Tod Dich loben.
Nicht
die da hinabfahren zur Gruft, hoffen auf Deine Wahrheit.
Daniel
12:2
Viele von denen, die im Erdboden schlafen, werden erwachen,
diese zu äonischem Leben, jene zur Schmach,
zu äonischer Abscheu.
Daniel
12:13
Und du gehe hin bis zum Ende; du wirst ruhen und wirst
auferstehen zu deinem Losteil am Ende der Tage.
Die
obigen Zitate über den Todeszustand (die wir nach der Elberfelder
beziehungsweise nach der Konkordanten Übersetzung wiedergegeben
haben) stehen keineswegs im Widerspruch zu Jesaia 14:8,10; denn die Seelen der
Verstorbenen führen ebenso wenig
Gespräche, wie es die Bäume tun. Wenn letztere reden, dann geschieht
es in einem Gleichnis wie Jothams Fabel. In Jesaia 14 ist es
poetischer Jubel im Tausendjahrreich, der beide sprechen
lässt,
sowohl Libanons
Zedern wie auch die Schatten
im Ungewahrten [Scheol].
Somit
wussten die Zeitgenossen unseres Herrn aus der Schrift, dass
die Gerechten im Tod ebenso schlafen wie die Gesetzlosen, dass
im Tod keinerlei Belohnung stattfindet, dass es dort nichts zu sehen
gibt und keine Gespräche geführt werden, und dass dieser bewusstlose
Zustand unter dem Bild des Schlafens zu verstehen ist.
Der Herr gebrauchte dasselbe Bild, als Er sagte: »Unser Freund
Lazarus schläft; aber Ich gehe hin, um ihn aus dem Schlaf zu
erwecken« (Joh. 11:11).
Diesen
Ausspruch hatte Er im Norden des Landes getan, im Vollmachtsgebiet
des Vierfürsten Herodes Antipas, wo Er kurz zuvor
über den reichen Mann und Lazarus gesprochen hatte. Dort im
Norden hatte Ihn der Bote mit der Nachricht von der Erkrankung
des Lazarus von Bethanien erreicht, den die beiden Schwestern zu Ihm gesandt
hatten. Aber erst zwei Tage später war von Ihm entschieden worden: »Gehen wir wieder nach Judäa« (Joh. 11:7).
Seinen Weg durch Galiläa und Samaria südwärts über Jericho in Richtung
Jerusalem und Bethanien können wir in der Heiligen
Schrift verfolgen (Luk. 13:22,31; 16:20; 17:11; 18:31; 19:1; Joh.
11:3,7).
Als
Martha von der Ankunft des Herrn hörte, ging sie Ihm entgegen und sagte: »Herr,
wenn Du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben. Nun weiß ich
aber auch, dass Gott Dir alles
geben wird, was Du von Gott erbitten magst« (Joh. 11:21,22). Sie
erwartete also vom Herrn keinen tröstenden Hinweis darauf, dass
ihr Bruder nun schaue, was er geglaubt hatte, im Sinn des Liedverses
»... denn
nach diesen Erdentagen werden Engel heim mich
tragen in des Hirten Arm und Schoß ...«
Auf den
Hinweis des
Herrn, »dein Bruder wird auferstehen«, kann sie glaubensvoll antworten:
»Ich weiß, dass er in der Auferstehung am letzten Tage auferstehen
wird« (Joh. 11:23.24).
Ihr
war demnach bekannt, was der Herr zu diesem Thema gesagt hatte: »Staunt nicht
darüber; denn es kommt die Stunde, in der
alle, die in den Gräbern sind, Seine Stimme hören werden; und
es werden hervorgehen, die das Gute getan haben, zur Auferstehung
des Lebens, die aber das Schlechte verübt haben, zur Auferstehung
des Gerichts ...
Denn das
ist der Wille Meines Vaters, dass
jeder, der den Sohn schaut und an ihn glaubt, äonisches Leben habe;
und Ich werde ihn »zu diesem Leben« am letzten Tage auferstehen
lassen« (Joh. 5:28,29; 6:40).
Dann
gab Jesus eine Probe Seiner Kraft, wie Er sie dereinst gebrauchen wird, und rief
mit lauter Stimme: »Lazarus, herzu, komm heraus!« Da kam der Verstorbene
heraus, dessen Körper sich
schon im Anfangsstadium der Verwesung befunden hatte (Joh.
11:39). Weiter lesen wir, dass dieses Wunder auch den Pharisäern
berichtet wurde, die von jenem Tag an berieten, wie sie Jesus töten
könnten (11:53).
Inzwischen
zog der Herr etwa 20 km in nördlicher Richtung nach Ephraim »und blieb dort
mit Seinen Jüngern. Das Passah der Juden
aber war nahe. Sechs Tage vor dem Passah kam Jesus nun nach
Bethanien, wo Lazarus war, der Verstorbene, den Jesus aus den Toten auferweckt
hatte« (11:54ff.).
Hätten
wir zu den Jüngern gehört, wir würden des Herrn Ausspruch
»Lazarus schläft« (11:11) damals wohl auch missverstanden haben,
in der Annahme, Er spreche von dem Schlaf eines Kranken,
der sich gesund schläft. Vielleicht hätten wir die Redefigur vom
Todesschlaf immer noch nicht begriffen und jetzt bei der Rückkehr
nach Bethanien eine Gelegenheit gesucht, um den berühmt
gewordenen Freund des Meisters nach seinen Eindrücken zu
fragen, die er hatte, bevor
er
den Bef'ehlsruf
des
Herrn hörte.
Unmittelbar
nach der Auferweckung mochte wegen der vielen Augenzeugen
und Besucher, die auf die Nachricht von dem Wunder kamen, keine Gelegenheit zu
einem solchen Gespräch gewesen
sein. Aber jetzt, da der Herr vier Tage in Bethanien verweilte, lag
nichts näher, als wieder darauf zurückzukommen. Zwei Tage vor
dem Passah bereitete man Ihm im Haus des Simon, des Aussätzigen
(Mat. 26:6), ein Mahl, bei dem auch Seine Jünger sowie Lazarus, Martha und
Maria anwesend waren. Hier im engeren Kreis
schien die passende Zeit gekommen zu sein, sich von Lazarus ausführlich berichten zu lassen, wie es gewesen war, als er von den
Boten in Abrahams Schoß getragen wurde. Mit dem Jüngling zu
Nain und der Tochter des Synagogenvorstehers Jairus mochten sie
vielleicht nie wieder zusammengekommen sein; beide Verstorbene waren auch kurz
nach erfolgtem Tod wieder auferweckt worden. Aber hier in Bethanien war nun
einer aus dem engsten Freundeskreis des Herrn mit bei Tisch (Joh. 12:2); was mag
dieser wohl während jener vier
Tage, da
sein Körper verwesend in der Grabhöhle lag, alles erlebt haben?
Lazarus
von Bethanien war also augenscheinlich der einzige aus ihrer
Bekanntschaft, der ihnen aus eigener Erfahrung über das »Jenseits« hätte
berichten können: von der Glückseligkeit in Abrahams
Schoß, von der Kluft, die ihn vom Ort der Qual trennte, da man nicht hinüber- und herübergehen kann, von all denen, die Lazarus
in Abrahams Schoß angetroffen hatte, nicht nur die Vorväter, sondern
auch Nachbarn und Bekannte aus Bethanien. Oder waren diese jenseits der
Kluft in der Flamme gewesen? Aber dann musste Lazarus
ja Gelegenheit gehabt haben, mit ihnen zu sprechen, wie Abraham
auch, und sicherlich würden sie ebenfalls gefleht haben, er möge doch nur die
Spitze seines Fingers in Wasser tauchen und ihre Zunge kühlen, da sie Schmerzen in der Flamme litten (Luk.
16:24).
Lazarus hätte wohl auch nicht gezögert, von seinen Eindrücken und
Empfindungen zu sprechen, die er angesichts der ungeheuren Scharen jenseits der
großen Kluft gehabt hatte; es mochten auch Freunde und Blutsverwandte unter
denen gewesen sein, die er ungestillte Schmerzen leiden sah. Sicher war er kein
harter Mann; denn
Jesus hatte ihn so lieb, dass Er um ihn weinte. So wäre Lazarus
gewiss auch nicht ungerührt geblieben, wann immer er seine Augen aufhob und hinüberblickte
zu dem Ort der Qual; bestimmt würde
er sich nun darüber geäußert haben, ob dies seine eigene Glückseligkeit
in Abrahams Schoß beeinträchtigt habe oder nicht.
Aber
die beiden Kapitel des Johannesevangeliums sind nicht der
Wiedergabe derartiger menschlicher Eindrücke gewidmet. Johannes
11 hat die Offenbarung der Herrlichkeit
Gottes zum
Thema, und die friedliche Szene
zu Beginn von Johannes 12 gibt ein wunderbar symbolhaftes Bild der drei Phasen des Auferstehungslebens,
wenn die Heiligen dem Herrn dienen (wie es Martha hier tat) und an allen
Segnungen (wie Lazarus mit zu Tisch lag) mit teilhaben
werden, wenn sie Ihn anbeten werden, so wie Maria Ihm hier
die höchste Verehrung darbrachte, deren sie fähig war. Nicht länger saß sie
lauschend zu
Seinen Füßen, sondern
opferte ihr kostbares
Salböl, um es über diese zu »verschwenden« (wie Judas meinte)
und sie alsdann mit ihren Haaren zu trocknen, die ja ihre
Herrlichkeit waren,
die sie Ihm gleichsam ebenfalls darbrachte.
Jedoch
von den Eindrücken des Lazarus schreibt Johannes kein Wort!
Warum nicht? Darauf gibt es nur zwei mögliche Antworten: Entweder wusste er
nichts zu sagen, was den Jüngern neu gewesen wäre, oder er wusste aus den vier
Tagen überhaupt nichts zu berichten. Wenn
Johannes einen so guten Gewährsmann über den Todeszustand nicht zu Wort kommen
lässt, musste dieser also nichts Neues oder gar
nichts über
jene vier Tage gesagt haben, während deren
sein Körper schon deutlich wahrnehmbaren Verwesungsgeruch
von sich gab.
Das
ist auch einleuchtend; denn er hatte eben während dieses Zeitraums nichts
erlebt, weil
seine Seele, sein Bewusstsein, sein Empfindungsvermögen,
nicht
existiert hatte;
den Geist hatte Gott zurückgenommen,
und der Körper war im Begriff gewesen, zum Erdreich
zurückzukehren. Aber all diese Zusammenhänge waren den
Beteiligten und Augenzeugen so sonnenklar und selbstverständlich,
dass sie darüber ebensowenig diskutierten, wie wir heute
niemals über den Verbleib des Lichts debattieren würden, nachdem
wir den Strom abgeschaltet haben. Jedoch was die Schrift
(bei Hiob, Prediger, Jesaia, Daniel und in den Psalmen) über
den Todeszustand aussagt, möchte man heute mit Lukas 16 widerlegen,
obgleich die Verse 10 -
31 damals
von niemandem als Tatsachenbericht
aufgefasst wurden. Letztlich tut das ja auch heute niemand,
wenigstens nicht durchgehend und konsequent.
Wie
will man Abrahams Ausspruch erklären? »Erinnere dich daran,
dass du dein Gutes während deines Lebens erhieltest, und Lazarus
gleicherweise das Üble; nun aber wird ihm hier zugesprochen,
während du Schmerzen leidest« (Luk. 16:25). Ein anderer Grund
wird uns für das verschiedenartige Schicksal der beiden Verstorbenen
überhaupt nicht genannt. Warum? Ist die Beschreibung des
Lazarus (arm, hungrig, vereitert) wörtlich zu nehmen oder vielleicht
bildlich? - Geht es bei uns so zu, dass unheilbare Hautkranke auf der Straße liegen und dass sich nur die herrenlosen Hunde
zu ihnen hingezogen fühlen?
Wer
wollte im Ernst behaupten, dass die Millionen und aber Millionen
Opfer aus den Hungersnöten, Seuchen und Epidemien aller
Zeiten jetzt Abrahams Schoß füllten? Da dieser aber bekanntlich
sehr
reich war, hätte ihm das
Schicksal zufallen müssen, in der Flamme
Schmerzen zu leiden!
Ist
denn für uns wahre Glückseligkeit überhaupt mit Abraham verbunden?
Paulus, der Apostel der Nationen, berichtet, dass er einmal
bis zum dritten Himmel entrückt wurde, wo er unbeschreibbare
Dinge hörte, über die er sich noch nicht äußern durfte (2.
Kor. 12). Dieses Erlebnis hatte er wohl, als er von den Juden in Lystra
gesteinigt, aus der Stadt geschleift und liegengelassen wurde,
weil man meinte, er sei tot. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass
Paulus hier nicht das Bild vom Heimtragen in
des Hirten Arm und Schoß gebraucht, das sich übrigens nirgendwo in der
Heiligen Schrift findet. Mithin kann auch Abrahams
Schoß nicht buchstäblich genommen werden; er ist also auch
nur ein Bild, das dem jüdischen Zuhörerkreis angepasst ist.
Noch eine andere Aussage wird man nicht wörtlich nehmen
wollen, wenigstens nicht in allen Einzelheiten: Wie immer man sich auch
das Geschick der Gläubigen und Ungläubigen im Tod vorstellen
mag, wer würde es wagen, den Gedanken näher auszumalen, dass
die große Kluft dazu da sei, damit die in Abrahams Schoß, welche
hindurchschreiten wollen (zur anderen Seite, ihren Blutsverwandten
in der Qual), daran gehindert
werden? Wer
sollte
die Seligkeit
als einen Ort in Sichtweite der Flammenqual beschreiben, da man
hinüber und herüber sprechen kann? Wenn man nun nicht alles
so wörtlich nehmen kann,
liegt doch bildliche Rede vor, also eine Redefigur,
die man eben nicht wie eine
Buchstäblichkeit behandeln darf.
Hier
mag noch der Einwand erhoben werden, dass der Herr Jesus
doch Selbst ausdrücklich gesagt habe, der reiche Mann sei in der
Hölle gewesen,
jedenfalls hieße es so bei Luther (Luk. 16:23). Forschen wir daher einmal nach,
welche Begriffe Gottes Wort hier und
anderswo im Grundtext gebraucht.
Das
Wort Scheol
kommt
in den hebräischen Schriften 65 mal vor. Luther
übersetzt es mit »Hölle, Tod, Tote, Totenreich, Tiefe, Unterwelt«.
In
den griechischen Schriften des Neuen Testaments finden wir das
Wort Hades 10
mal.
Die Lutherübersetzung gibt es 6 mal mit »Hölle«
wieder (Mat. 11:23; 16:18; Luk. 10:15; 16:23; Off. 1:18; 6:8),
außer Apostelgeschichte 2:27,31, wo Petrus von der Auferstehung
Christi spricht, hier übersetzt sie Hades
mit
»Tod«. Die Konkordanten
Übersetzungen geben dieses Wort jedes Mal mit »Ungewahrtes«
wieder.
Doch
im Neuen Testament finden wir noch ein weiteres Wort, das leider auch in der
Elberfelder Übersetzung, wohl dem Beispiel Luthers
folgend, mit »Hölle« wiedergegeben worden ist. Es handelt
sich um das Wort »Gehenna«, die griechische Form für das hebräische »Ge-Hinnom«, das Tal oder die Schlucht der Söhne Hinnom,
unmittelbar unterhalb Jerusalems gelegen. Dort wurde in alter
Zeit aller Unrat durch ein immerwährendes Feuer verbrannt. Wenn Christus
auf der Erde herrschen wird, dann sollen die Leichen
der Rebellen und Verbrecher wieder in die »Gehenna« geworfen werden
(vgl. Jes. 66:23,24). An folgenden Stellen finden wir
das Wort »Gehenna« im Neuen Testament: Matthäus 5:22,29,30; 10:28;
18:9; 23:15,33; Markus 9:43,45,47; Lukas 12:5; Jakobus
3:6.
Die
Lutherbibel enthält einen Plan Jerusalems, auf dem diese Schlucht
als »Hinnomtal« eingezeichnet ist, ebenso auch das Kidrontal,
mit dem sie sich vereinigt, das in neuer Zeit die Aufgabe des
Hinnomtals übernommen hatte.
Wir
sollten das Wort »Hölle« aus unseren Bibeln streichen, da es mit
völlig falschen Vorstellungen der allgemeinen Christenheit befrachtet
ist.
Nun
können wir uns vorurteilsfrei mit dem Kapitel 16 des Lukasevangeliums befassen,
nachdem wir aus der Schrift die verschiedenen
Begriffe des Todeszustands uns haben erläutern lassen. Darüber hinaus haben
wir gesehen, dass so viele Einzelheiten in
Lukas 16 auf keinen Fall wörtlich genommen werden können, sodass
es sich hier also nicht um einen Tatsachenbericht handelt, sondern vielmehr um
etwas, was in einer bildlichen Sprache ausgedrückt ist.
Dass
der Ausdruck »Gleichnis« sich in 16:19 nicht findet, braucht
uns nicht zu verwundern; in 16:1 wird er ebenfalls ausgelassen.
Und wenn wir noch weiter zurückgehen, so finden wir diesen Begriff auch nicht
in 15: 11 (der verlorene Sohn) oder in 15:8 (die verlorene Drachme); lediglich in 15:3 heißt es: »Da erzählte Er
ihnen dieses Gleichnis.«
Es
sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die uns heute geläufige
Kapiteleinteilung vor rund 700 Jahren von einem englischen Erzbischof
vorgenommen wurde. Er hatte leider nicht
immer eine glückliche Hand dabei; so auch in unserem Abschnitt
nicht; denn Lukas 15 und 16 hätten besser ein einziges Kapitel
bilden sollen; und als Überschrift dazu hätte man die Worte des
Herrn nehmen können: »Da erzählte Er ihnen dieses Gleichnis.«
Lukas
hat diesen Satz mit Bedacht nur einmal niedergeschrieben,
und zwar an dieser einen Stelle. Er hat nicht etwa aus Oberflächlichkeit
vergessen zu betonen, dass die verlorene Drachme und der verlorene Sohn und die
anderen ebenfalls Gleichnisse sind. Gottes Wort duldet keine Halbheiten. Es
handelt sich hier um
ein
einziges, großes
Gleichnis,
das
der Herr uns in fünf
Bildern vorführt.
Er tat dies jedoch nicht, weil sich gerade genügend Zuhörer
bei Ihm befanden, sondern weil eine bestimmte Situation es verlangte,
dass gewissen Menschen eine Lektion erteilt werde, und dies unmissverständlich.
Die
näheren Umstände werden Lukas 15:1,2 kurz skizziert. Zöllner
und Sünder
waren zu Ihm gekommen, um
Ihn zu hören. Diese beiden Wörter haben
wir schon so oft gebraucht, dass sie fast farblos für uns geworden sind.
Was für Menschen hatten sich dem Herrn
genaht? In den Augen der Wohlanständigen war es gemeines Volk, ehrvergessene Landesverräter, die für die römische Besatzungsmacht
die Steuern eintrieben und von den Überschüssen lebten.
Jesus
hatte den Zöllner Levi in Seine Nachfolge berufen. Als dieser Ihm zu Ehren
einen großen Empfang in seinem Haus gab und eine große Schar von anderen Zöllnern
dazu einlud, hatte der Herr
keineswegs seine Einladung ausgeschlagen, sondern mit ihnen allen gegessen und
getrunken. Das hatte damals ebenso das Murren der Schriftgelehrten und Pharisäer
erregt (Luk. 5:30) wie die
Tatsache, dass dieselben Menschen wieder den Rabbi umdrängten.
Darum heißt es: »Doch die Pharisäer wie auch die Schriftgelehrten
murrten laut und sagten: Dieser nimmt die Sünder an und isst
mit ihnen« (15:2).
Hatten
denn die Führer des Volkes den geringsten Grund, sich auf
ihre theologische Bildung, auf ihre gehobene soziale Stellung irgend
etwas einzubilden und auf die anderen herabzusehen, die in ihren
Augen zum niederen Volk zählten? Waren die Führer des Volkes nicht die
Wohlanständigen, die Hüter der Tradition, die das Gesetz hochhielten? Hatten die Zöllner und Sünder sich nicht davon losgesagt
und sogar mit den römischen Eroberern gemeinsame Sache gemacht?
Die
stolzen, selbstgerechten Pharisäer hatten unbewusst eine kostbare Wahrheit
ausgesprochen:
Dieser
nimmt die Sünder an! In
seiner
Entgegnung nahm der Herr diese Wahrheit als Ausgangspunkt
für ein aus fünf Bildern bestehendes Gleichnis, das sich mit dem Bundesvolk
Israel und seinen verschiedenen Klassen beschäftigte und aufzeigte, dass es
Gott nicht um den Selbstgerechten, sondern um
den Sünder geht, der weiß, dass er ohne die göttliche Hilfe,
die ihn sucht, verloren bleibt, geradeso wie das verirrte Schaf und die Drachme,
die eine Frau verliert. Die demütige Selbsterkenntnis des Sünders zeigt der verlorenen Sohn, der so verkommen
ist, dass er für den ausländischen Arbeitgeber die niedrigste Arbeit tut, die es nach jüdischem Empfinden überhaupt geben
konnte.
Die
selbstgerechten Pharisäer und ihr Anhang werden durch die 99
Schafe und den älteren, daheimgebliebenen Bruder des verlorenen Sohnes
dargestellt, die Schriftgelehrten, die Gottes Wort verfälschten,
durch den gewissenlosen und ungerechten Verwalter. Da
der Herr ausdrücklich betont hatte, dass Er nur zu den verlorenen
Schafen des Hauses Israel gesandt sei (Mat. 15:24), kann sich das erste Bild des
fünfteiligen Gleichnisses nur auf Israel beziehen.
Die Schafe sind Gottes Bundesvolk, und Jesus ist der gute Hirte,
der Seine Seele für die Schafe gibt (Joh. 10:11). Hier haben wir
die göttliche
Seite
der Wahrheit.
Israels
Seite
zeigt das zweite Bild, die gewissenhafte Frau, die eine
Leuchte anzündet, damit das Verlorene gefunden werden kann.
Einmal wird ganz Israel so sein wie diese Frau.
Als
Sprecher für das Volk hatte der verlorene Sohn sich in der Fremde
zu bekennen vorgenommen: »Vater, ich habe gegen den Himmel und vor deinen Augen
gesündigt, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen«, ähnlich wie der Herr den Zöllner in einem
anderen Gleichnis (Luk. 18:9-14) sprechen lässt: »Gott sei mir
Sünder versühnt!« (18:13). Der Pharisäer aber hatte gebetet: »Gott, ich
danke Dir, dass ich nicht so wie die übrigen Menschen bin, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner«
(18:11). Diese pharisäische Haltung spiegelt sich auch in den Worten
des älteren, daheimgebliebenen Sohnes wider, der dem reuig heimkehrenden Bruder
den liebevollen Empfang durch den Vater
mißgönnte und grollend sagte: »Siehe, so viele Jahre sklave ich dir und habe
niemals dein Gebot übergangen« (15:29).
Entscheidender Punkt | Pharisäer | Sünder |
1.Nur das Verlorene wird geborgen | 99 Schafe |
Verlorenes Schaf
|
2. Das getreue Israel lässt das Wort aufleuchten | Verlorene Drachme | |
3. Der Selbstgerechte missgönnt dem reuigen Sünder die Rettung | Daheimgebliebener Sohn |
Verlorener Sohn
|
4. Veruntreuung von anvertrautem Gut |
Reicher Mann, ungerechter Verwalter
|
|
5. Israel stirbt als Volk |
Reicher Mann | Armer Lazarus |
Wer
bis hierher dem Gesagten gefolgt ist, wird sicher zugeben, dass
diese Gleichnisbilder für die aus Sündern und Pharisäern, aus Zöllnern
und Schriftgelehrten bestehende Zuhörerschar treffend gewählt waren, und für
die Situation, die sich ergeben hatte, ausgezeichnet
passten. Hier ist Israel in seiner Gesamtheit vertreten, sowohl
durch die Führer als auch durch das Volk, durch reuige Sünder
auf der einen und verstockte Selbstgerechte auf der anderen Seite.
War jetzt der geeignete Augenblick gekommen, neues Licht über
den Todeszustand zu bringen, abweichend von allem, was im Gesetz und den
Propheten geschrieben ist? Oder ist es nicht viel naheliegender, dass der Herr
Jesus den »Wohlanständigen«, den Hütern
der Tradition eine noch gründlichere Lektion erteilte und ihnen
nicht nur sagte, was sie in Gottes Augen waren, sondern auch, worin ihr
größtes Verbrechen bestand und welches Schicksal sie bald treffen würde, die
sie sich so reich und sicher wähnten?
Lukas
16 beginnt mit den Worten: »Zu Seinen Jüngern sagte Er dann noch .
. .«
Damit wird ausgedrückt, dass der Herr Jesus beim Übergang zum vierten Bild
Seines Gesamtgleichnisses nicht nur die
um Ihn versammelten Pharisäer und Sünder anblickte und ansprach, sondern auch
Seine Jünger; denn sie waren es, in deren Hände die Verwaltung des Wortes
Gottes überging, von der im vierten
Gleichnisbild die Rede ist. Zunächst wird Israel, der reiche Mann,
noch nicht verworfen, sondern nur die Verwalter werden gewechselt.
Der einleitende Satz des Herrn: »Da war ein reicher Mann«, ließ jedes Mal die Pharisäer und Schriftgelehrten aufhorchen,
sowohl in Lukas 16:1 als auch später in 16:19; sie wussten, dass
es abermals um sie ging. Mit demselben Satz hatte der Herr schon zuvor (Luk.
12:16) ein anderes Gleichnis eingeleitet; dort war
Habsucht der
entscheidende Punkt bei dem reichen Mann, der sich so sicher wähnte. Hier geht
es um Veruntreuung
von anvertrautem
Gut. Dort ging es ganz
allgemein um irdische Güter, hier jedoch um
das Höchste, was Gott je einem Volk anvertraut hatte, nämlich
Sein Wort.
Die
Schriftgelehrten hatten dieses durch Zusätze verfälscht und mit
unerträglichen Lasten beladen (Mat. 15:1-20; Mark. 7:1-23; Luk. 11:37-46). Wörtlich
hatte der Herr zu ihnen gesagt: »Damit macht
ihr das Wort Gottes um eurer Überlieferung willen ungültig ...
Solche Dinge und dergleichen mehr tut ihr viel« (Mat. 15:6; Mark.
7:13). Im vierten Bild des Gesamtgleichnisses kleidete Er dies in die Worte: »Nimm
deine Schuldschrift und schreibe achtzig!« (Luk. 16:7). Wer so pflichtvergessen
mit anvertrautem Gut umgeht, der wird
von seinem Herrn nur dann gelobt werden, wenn dieser ebenso gewissenlos
ist.
So
wie der ungerechte Verwalter der offizielle Vertreter seines reichen
Herrn war,
galten die Pharisäer und Schriftgelehrten als die Vertreter
Israels, und
das mit Recht; denn sie waren geradeso selbstsicher
und selbstgerecht und dabei dem Herzen Gottes so fern
wie die große Masse des Volkes, das ebenfalls nicht umsinnte und
schließlich rief: »Kreuzige Ihn!« Somit ist Lukas 16:9 als Frage zu
verstehen: »Sage Ich euch etwa: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon ...?« Was Er jedoch rät, ist genau das Gegenteil:
»Wer
im Geringsten treu ist, der ist auch in vielem treu, und wer
im Geringsten ungerecht ist, der ist auch in vielem ungerecht«.
Darauf folgt die Frage des Herrn: »...
wer wird
euch das wahrhafte
Gut anvertrauen?« (16:10,11).
An
dieser Stelle sei noch angemerkt, dass es in den Handschriften
des Grundtextes weder Kommas, Punkte oder Fragezeichen nach
unserem Verständnis gibt, nicht einmal eine Trennung zwischen
den Wörtern. Zwar ist das kleine Jota ebenso inspiriert wie jedes andere
charakteristische Hörnlein eines Buchstabens; doch sollten
wir uns den Weg zum rechten Verständnis des Gotteswortes nicht
durch eine Zeichensetzung versperren lassen, die wohl ehrwürdiges
Alter hat, aber doch von Menschen stammt.
Wenn
der lebendige Kontakt zu Gott fehlt, geben sich die Menschen entweder einer
leeren religiösen Form und der Werkgerechtigkeit
hin, oder sie schwelgen in Fabeln
und der Philosophie, wobei die
religiöse
Verbrämung nicht
fehlt. Diese Entwicklung können wir
auch bei Israel beobachten. Bei Maleachi (der ein Zeitgenosse Esras und Nehemias
nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft war) finden wir die
Warnung: ».
.. und nun
für euch,
ihr Priester, dieses Gebot ...
Ihr aber, ihr seid abgewichen vom
Weg, ihr habt viele durch falsche Weisung zu Fall gebracht« (Mal.
2:1,8). Doch
man überhörte dieses Wort, und etwa anderthalb
Jahrhunderte später widmete sich die jüdische Intelligenz (besonders in
Alexandria, dem Sitz der größten jüdischen Synagoge
außerhalb Jerusalems) dem Studium der griechischen Philosophie, in der törichten Meinung, dass bei Plato und Aristoteles mehr
Licht zu finden sei als in Gottes Wort -
und seit jenen Tagen wird bis heute
deren Theorie geglaubt, dass die Seele unsterblich sei
und eine bewusste Existenz in einem Totenreich habe.
Was
in Palästina an »religiösem Schrifttum« neu entstand und neu
in Umlauf kam, darüber vermitteln uns die Apokryphen ein erschütterndes
Bild. Derlei religiös verbrämte Fabeln erzählte man sich unter dem Volk. Wir finden ähnliche Anschauungen im »Buch
Henoch«, das den Aufenthaltsort der Verstorbenen als aus vier
tiefen Hohlräumen bestehend schildert, von denen drei dunkel
sind und einer hell. In den dunklen Räumen sind die Sünder; die helle
Abteilung, in der sich auch eine Wasserquelle befindet, ist für
die Gerechten. Der Geschichtsschreiber des jüdischen Volkes, Josephus, der allerdings erst 37 n. Chr. geboren ist, redet in einer Schilderung
des Totenreichs auch vom Schoß Abrahams und der großen
Kluft zwischen den verschiedenen Aufenthaltsräumen.
Die
Pharisäer und Sadduzäer wichen voneinander in der Lehre ab; und anstatt das
unverfälschte Wort Gottes aufleuchten zu lassen, gab man menschlicher Überlieferung
und heidnischer Philosophie
den Vorzug. Nach unruhigen Zeiten wurde dann unter römischer
Besetzung grundsätzlich wieder die ungestörte Ausübung des
Gottesdienstes garantiert und damit auch die gesicherte Existenz
für Priester, Sänger, Torhüter und all die Leviten, die auf dem Tempelgelände
beschäftigt waren. Ebenso sicher fühlten sich die Angehörigen der
verschiedenen jüdischen Sekten, von denen die Schrift neben den Pharisäern
noch die Sadduzäer nennt, die jedoch die Auferstehung leugneten (Ap. 23:8).
Was
der Herr den ersteren sagte: »Ihr seid es, die sich vor den Augen der Menschen
selbst rechtfertigen. Gott aber kennt eure Herzen;
denn was vor den Menschen hoch dasteht, ist ein Gräuel
vor
den Augen Gottes« (Luk. 16:15), das galt auch den anderen. Der Spott der Pharisäer
zeigt deutlich, dass der Herr sie mit dem vierten
Gleichnisbild zutiefst getroffen hatte. Wer aber ein Greuel ist,
kann die Aufgaben eines königlichen Priestertums nicht durchführen
(2. Mose 19:6).
Sodann
betonte Jesus die göttliche Offenbarungslinie, die für Fabeln,
Philosophie und menschliche Überlieferung keinen Raum läßt.
Nur durch das Gesetz und die Propheten sprach Gott zu Israel
bis zum Auftreten Johannes des Täufers. Dieser wurde der Vorläufer für eine
andere Form göttlicher Enthüllungen, da das Wort
Fleisch
wurde (Joh. 1:14). Doch fand die frohe Botschaft nicht
ein Volk mit zerknirschten Herzen vor; vielmehr wollte man den
Herrn mit Gewalt zum König machen (Joh. 6:15), weil man sich
begierig nur nach äußerlichen Segnungen des Königreichs ausstreckte.
Dieses wird zwar kommen, aber nur in Übereinstimmung mit all dem, was im Wort Gottes darüber gesagt worden ist. Es
wird jedoch nicht eher anbrechen, bis das gesamte Volk und all die
Führer bekennen: »Wir gingen alle in der Irre wie Schafe« (Jes. 53:6).
Die
Scheidung
Verschiedentlich
wird uns berichtet, wie die Pharisäer den Herrn
mit der Frage auf die Probe gestellt hatten, ob es einem Mann
erlaubt sei. seine Frau zu entlassen. Auf des Herrn Gegenfrage:
»Was gebietet Mose euch?« (Mark. 10:3) war von ihnen auf die
Scheidungsurkunde hingewiesen worden, und des Herrn Antwort darauf war ähnlich
formuliert wie Lukas 16:18: »Jeder. der seine
Frau entlässt und eine andere heiratet, bricht die Ehe; und jeder,
der die vom Mann Entlassene heiratet, bricht auch die Ehe.«
Wenn
wir von geistlichen Dingen sprechen, so ist uns heute der Ausdruck
»Braut« völlig geläufig; wir wissen, dass damit die Brautgemeinde gemeint
ist, die zur Hochzeit des Lammes kommen wird (Off. 19:7). Ebenso war den
Zuhörern damals das Wort »Frau« auf geistlicher Ebene ein fester Begriff;
denn immer wieder wird Israel als Jewes
Ehefrau angesehen. Mag uns auch Lukas 16:18 als eine
den Zusammenhang störende Bemerkung vorkommen, die Pharisäer
und Schriftgelehrten, denen sie galt, verstanden sie wohl.
Sie erinnerte sie nicht nur an frühere Gespräche mit dem Herrn,
als Er ihnen den Beweis erbrachte, dass vom Gesetz kein Hörnlein fortfallen würde,
- sie rief auch bei ihnen die Erinnerungen
an 5. Mose 24:1 wach, wonach die Frau entlassen
werden konnte,
wenn etwas Schändliches
an
ihr gefunden wurde.
Sollte
Gott nicht auch die Volksführer, denen Er das Gesetz und die
Propheten anvertraut hatte, entlassen,
weil sie Ihm ein Greuel
waren?
Sollte Er nicht auch Sein Bundesvolk Israel aus dem Ehebund
entlassen, weil Er Schändliches
an
ihm gefunden hatte? - Man gab
den Priestern eine Nahegabe (Korban), anstatt die alten Eltern
zu hegen und zu pflegen! Man schrieb Scheidungsurkunden aus
und schied damit, was Gott zusammengefügt hatte! Hatte der Herr
nicht prophezeit, dass es dem Land Sodom am Tage des Gerichts
erträglicher
ergehen würde
als Kapernaum
(Mat. 11:20-24)?
Innerlich
war die Masse des Volkes samt seiner Führung dem Herzen
Gottes ferne; die Scheidung
war
bereits geschehen. Hätte Er die
Scheidung auch äußerlich vollzogen, so hätte dies das Ende der
Existenz Israels als Nation bedeutet. Israel wäre dann der geistlichen Gewänder
entblößt worden, die das königliche Priestertum kennzeichnet, sowohl des Purpurs
der Könige wie auch des
Batists
(der
feinen Leinwand), in welche die Priester gekleidet waren.
All
dies erfüllte sich nicht zu Jesu Lebzeiten auf Erden, sondern etwa
vier Jahrzehnte später, als der Aufstand in Jerusalem nach langer Belagerung
zusammenbrach, die römischen Truppen die Stadt
einnahmen und der Tempel in Flammen aufging. Wen die Sieger
nicht am Schandpfahl hinrichteten oder im Meer ertränkten, schickten sie
in die Sklaverei. Israel hörte damit auf, als Nation zu existieren;
als solche war es nicht
mehr wahrnehmbar, wie
Kapernaum;
denn von der einst schönsten Stadt des Landes ist heute nichts
mehr zu sehen. Die Gebiete am Ufer des galiläischen Meeres sind so mit Schutt
und Trümmern bedeckt, dass Kapernaum tatsächlich zum Hades hinabgestiegen ist,
zum Unwahrnehmbaren, Ungewahrtcn,
wie es der Herr vorhergesagt hatte (Luk. 10:15).
Der
nationale Tod - Israel stirbt als Volk
Die
Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. traf die Führerschaft Israels
ungleich härter als das Volk selbst. Wer von den Pharisäern. Schriftgelehrten,
Sadduzäern, Priestern, Leviten überhaupt das furchtbare
Gericht überlebt hatte, war all dessen entblößt, was bisher
seine gesicherte soziale Stellung garantiert hatte; es war niemand
mehr da, der den Zehnten gab, damit all die ernährt würden, die mit dem
Tempeldienst zu tun hatten; es gab zunächst keine
jüdische Volksgemeinschaft mehr, in der die Sektenführer eine
angesehene Rolle hätten spielen können. In der Sklaverei traf
alle mehr oder weniger das gleiche Los. Wer sich nicht zerknirschten
Herzens vor Gott beugte, der all dies Gericht über sie verhängt
hatte, spürte nur den allenthalben entbrannten Judenhass,
der jeden Tag zur Qual machte.
Erträglich
war das nationale und das persönliche Schicksal allein
für den, der glauben konnte, ohne die Verheißungen zu empfangen (wie
einst auch Abraham; Heb. 11:13), für den, der wusste, dass
er von der Sünde
durch
und durch krank war und den
Arzt brauchte,
wie es der Herr in jenem kleinen Gleichnis (Luk. 5:30-32)
formuliert hatte, das die Pharisäer mit solchen Kranken verglich, die sich doch
für gesund hielten, und die Zöllner mit jenen, die sich der Lumpen ihrer
Ungerechtigkeit und der Geschwüre und Eiterbeulen ihrer Sünde wohl bewusst
waren.
Der
Herr hatte mit feiner Ironie von diesen »Gesunden« als den 99
Gerechten gesprochen (Luk. 15:7), die der Umsinnung nicht bedürfen; denn so
glaubten sie in ihrem Herzen. Tatsächlich war dies
aber ein Irrglaube.
Diesen
stellte der Herr beim Abschluss des ersten
Gleichnisbildes an den Pranger. Nicht nur alle Zuhörer damals,
sondern auch wir Leser heute sind uns darüber im klaren, dass
Jesus nicht Seiner Meinung, sondern ihrem Aberglauben
Ausdruck
verlieh, wenn Er sagte: »...
neunundneunzig
Gerechte, die der
Umsinnung nicht bedürfen.«
Als
der Herr zum fünften Bild Seines großen Gleichnisses kam, das die düstere
Zukunft ahnen lässt, die über alle Teile des Bundesvolkes Israel hereinbrechen
wird, gebrauchte Er fast nur noch Bilder,
die Er
dem Aberglauben,
den Fabeln
und
der Philosophie
der damaligen
Zeit entnahm. Dies erkannten Seine Zuhörer ebenso klar
wie zuvor die Ironie von den 99 Gerechten. Er hatte sie »Gerechte«
genannt, weil sie sich vor den Augen der Menschen selbst rechtfertigten.
Er stellte zugleich ihre Religionsphilosophie bloß, die
zwar bei den Menschen hoch angesehen, in Gottes Augen aber ein Gräuel war (Luk.
16:15).
Weil
Gottes Wort nirgendwo sagt, dass der Selbstgerechte auf Umsinnung
verzichten könne, hat niemand dies aus Lukas 15:7 gefolgert.
Im Gesetz und den Propheten ist auch nirgendwo die Rede
davon gewesen, dass die Seele im Scheol etwa eine bewusste Existenz habe und
dort denken, sprechen, sehen und leiden könne.
Deshalb haben auch die Zuhörer des Herrn aus Lukas 16:19-31
nichts gefolgert, was im Widerspruch zum Gesetz gestanden
hätte.
So
unlogisch sind nur wir heute, dass wir meinen, der Herr habe möglicherweise
im fünften Gleichnisbild ganz zusammenhanglos die
Lehre der Schrift vom »Todesschlaf« widerrufen, nachdem Er in Lukas 16:17
gerade betont hatte: »Es ist aber leichter, dass Himmel
und Erde vergehen, als dass ein Hörnlein vom Gesetz falle«. Eine
Abweichung von dem, was geschrieben steht, hätte Er
vielleicht wie folgt
formuliert: »Ihr hört, dass zu den Altvordern gesagt wurde: Die Toten
aber wissen gar nichts, und sie haben keinen Lohn
mehr. Ich aber sage euch: ...« (vgl.
Pred. 9:5). Doch der Herr
hat nie
etwas
Derartiges gesagt!
Gottes
Zorn - ein
verzehrendes Feuer
Wer
wollte im Ernst meinen, die Schriftgelehrten würden ruhig zugehört
haben, ohne zu widersprechen, hätte der Herr hier so unvermittelt
einen Tatsachenbericht vom Leben nach dem Tod gegeben,
der so ganz im Widerspruch zu den Aussagen der Schrift steht?
Aus Lukas 11:53 und Johannes 8:6 wissen wir, dass sie eifrig nach
einer Gelegenheit suchten, damit sie Ihn verklagen konnten, falls Er etwa etwas
anderes lehren sollte als das Gesetz. Doch am Schluss
von Lukas 16 erhoben sie ebensowenig Einspruch gegen die düstere
Gerichtsprophezeiung vom nationalen Tod, wie sie Ihn auch
nicht hatten widerlegen können, als Er warnte: »Doch wehe, ihr
Pharisäer! Ihr verzehntet die Minze, die Raute und jedes Gemüse; doch am
gerechten Richten und der Liebe Gottes geht ihr vorüber ...
Es wird von dieser Generation gefordert werden« (Luk.
11:42,51).
Von
diesem Gericht sagt das Gleichnisbild vom reichen Mann und
Lazarus aus, dass der königliche Purpur und der priesterliche Batist
nicht mehr wahrnehmbar sein werden, wenn nämlich die Flamme
des Judenhasses wie einst in dem Schmelzofen Ägypten lodert (5. Mose 4:20,24;
29:19). Den meisten Gläubigen ist kaum bewusst, wie oft von Gottes Zorn in der
Schrift als von einem verzehrenden Feuer, einer Flamme, gesprochen wird, und
dass Er die Gerichte über Sein Bundesvolk durch judenfeindliche Nationen durchführen
ließ. Keines der frühen Gerichte Gottes über Israel hat auch nur annähernd
so lange gewährt wie dieses, das im Jahr 70
n. Chr. hereinbrach und noch heute andauert; denn der heutige Staat
Israel ist noch nicht der reiche Mann in Purpur und Batist, letzterer
ist immer noch unwahrnehmbar oder (wie es griechisch heißt) im Hades, im
Ungewahrten, so wie der gläubige Volksteil es ist. Die Kluft zwischen einem gläubigen
und einem ungläubigen Juden ist genau so
groß wie die Kluft zwischen zwei Menschen aus den
anderen Nationen, von denen der eine zum Glauben kam und der
andere nicht.
Es
lohnt sich in diesem Zusammenhang, die Ausführungen über die
Redefiguren zu Beginn der Stichwortkonkordanz des Konkordanten Neuen
Testaments einmal intensiv zu lesen, um mit den Schönheiten
der Sprachen der Enthüllungen Gottes besser vertraut zu werden. Dort heißt es auf Seite 355: »Da
gelegentlich Redefiguren der Heiligen Schrift wörtlich verstanden werden
und dies zu Trugschlüssen führt, erscheint es angebracht,
sich mit solchen bildlichen Ausdrücken näher zu befassen, dies um so
mehr, als sie oft eine göttliche Wahrheit prägnanter auszudrücken
vermögen, als nüchterne Sätze es könnten. Zu den kostbarsten Redefiguren der Bibel gehört das Wort in 1. Johannes 1:
5: Gott ist Licht. Damit wird ausgesagt: Gott ist im geistlichen Bereich
etwa dasselbe wie das Licht im stofflichen. Doch viel schöner
und eindrucksvoller als diese nüchterne Erklärung ist das kurze
Zitat aus
1.
Johannes 1:5, selbst wenn es streng genommen nur
bildlich und nicht buchstäblich wahr ist; denn auch das Licht ist
etwas von Gott Erschaffenes; ehe es war, war Er.
Weil
uns Gottes Wort geistliche Dinge enthüllt, zu deren Wahrnehmung
uns der geeignete Sinn fehlt, muss es in Ausdrücken reden,
die uns geläufig sind. So werden Begriffe, die wir buchstäblich
für den irdischen Bereich verwenden, im übertragenen Sinn für
den geistlichen Bereich gebraucht. Licht und Finsternis, Leben und Tod, hoch und
niedrig haben als bildliche Ausdrücke einen geistlichen
Sinngehalt.«
Dies
sollte uns die Augen dafür öffnen, dass wir nicht jedes Bibelwort
buchstäblich auffassen dürfen. Als unser Herr Seinen Jüngern
sagte, Lazarus von Bethanien schlafe (Joh. 11:11), und Er wolle
ihn aus dem Schlaf wecken, fassten sie dies buchstäblich auf. Dadurch
wurden sie irregeführt. So sagte Er ihnen frei heraus, Lazarus
sei gestorben. Doch durch diese Redefigur drückte Er die große Wahrheit aus, dass der Tod einem Schlaf gleicht, aus dem Er weckt,
wie man jemanden aus dem nächtlichen Schlummer weckt. Wir
sollten auf der Hut sein, wenn die Schrift etwas sagt, was nicht buchstäblich
wahr sein kann. Dann handelt es sich nicht um einen Irrtum,
sondern um ein Gleichnis.
Die
meisten Gleichnisse sind dem täglichen Leben entnommen, aber
nicht alle; denn niemand verschluckt Kamele, wenn er Mücken
durchseiht. Eine Mücke mag uns wohl ins Auge fliegen und Schmerzen
verursachen, bis sie entfernt ist; aber jeder größere Fremdkörper,
etwa ein Stab, würde das empfindliche Auge schon zerstören; und ein Balken ist in einem Auge gar nicht vorstellbar; so
etwas gibt es nur in einem Gleichnis, nie aber in Wirklichkeit (Mat.
7:3; 23:24). Dasselbe gilt für Jothams
Fabel (Richt. 9); weil wir aber als erwachsene
Menschen genügend über die Botanik wissen,
halten wir das Gespräch zwischen den Bäumen und Sträuchern
nicht für einen Tatsachenbericht. Ja, wir nehmen auch keinerlei
Anstoß daran, dass dort das Wort »Gleichnis« fehlt.
Wenn
wir nun all das über den Todesschlaf glauben
können,
was die
Heilige Schrift bis zur Zeit des Herrn Jesus darüber sagt, können
wir auch das Gespräch zwischen Abraham und dem reichen Mann
im Ungewahrten niemals für einen Tatsachenbericht halten, sondern nur für ein Gleichnis.
Da
es der Zweck eines solchen ist, eine Parallele zwischen stofflichen
Dingen und geistlicher Wahrheit zu ziehen, braucht es sich nicht immer auf
buchstäblich vorkommende Tatsachen zu gründen. Wohl kaum jemand würde einem
Arbeiter für eine Stunde im Weinberg
ebensoviel bezahlen wie für den ganzen Tag. Hier müssen die normalen Umstände
der zu erläuternden Wahrheit angepasst
werden; denn nur
auf die geistliche Wahrheit kommt es an, nicht
auf die Geschichte, die erzählt
wird. Niemals darf man bei der Auslegung den
Vergleich weiter ziehen, als es der Zusammenhang erlaubt.
Sobald man dies versucht, wird das Bild vergewaltigt.
Es
kommt auf den entscheidenden Punkt in jedem Gleichnis an; natürlich enthält
es zuweilen allerlei Beiwerk, damit das Bild vollständig
wird. Doch nicht jede Nebensächlichkeit bedeutet etwas Besonderes.
Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Luk. 10:25-37) ist der entscheidende
Punkt: »Wer ist mein Nächster?« Doch
die Mörder oder Wegelagerer, Öl und Wein, das Reittier des Samariters,
die Herberge, die zwei Drachmen, der Herbergswirt, das Versprechen, zusätzliche
Kosten bei der Rückkehr zu bezahlen - all
dies ist Beiwerk, um das Bild abzurunden, und bedarf keiner
Auslegung.
Dasselbe
gilt für die fünf Bilder des großen Gleichnisses in Lukas 15 und 16. In
unserer Tabelle wird herausgestellt, was jeweils der
entscheidende Punkt ist und wen der Herr Jesus in den verschiedenen
Bildern anspricht, entweder die Pharisäer des Volkes Israel
oder die Sünder oder beide.
Was
wollte der Herr Seinen Zuhörern sagen?
Verloren
sind alle Söhne Israels, doch nur die wenigsten wussten es und sagten: »Gott, sei mir Sünder versühnt« (Luk. 18:13). Da die
große Menge des Volkes es nicht erkannte, sprachen sie: »Gott,
ich danke Dir, dass ich nicht so wie die übrigen Menschen bin« (18: 11).
Darüber
hinaus traf die Volksführer die Schuld, dass Fabeln und Philosophie
bei dem Volk Eingang gefunden hatten und man der Überlieferung
mehr Wert beilegte als dem Wort Gottes.
Da
diese Haltung ein Gräuel vor den Augen Gottes ist, konnte das
Gericht nicht ausbleiben, es war der nationale Tod. Sobald dieser
eintrat, sobald Israel aufhörte zu existieren, gab es keinen wohlgedeckten
Tisch mehr für die Selbstgerechten. Als Israel seiner
irdischen Vorzugsstellung und seiner besonderen geistlichen Vorrechte
als Bundesvolk entblößt wurde, als ihm sein königliches Priestertum (Purpur und Batist) genommen wurde, da traf dieser Verlust
die wenigen Gläubigen, die auf den baldigen Anbruch des Königreichs warteten,
ebenso wie die große Masse der Widerspenstigen
und Ablehnenden.
Der
Herr schloss das große Gleichnis mit den Worten ab: »Wenn sie
nicht auf Mose und die Propheten hören, werden sie sich auch nicht
überzeugen lassen, wenn jemand aus den Toten aufersteht« (Luk. 16:31). Den
Beweis hierfür trat der Herr kurz darauf an, als Er
tatsächlich einen Menschen namens Lazarus aus den Toten auferstehen
ließ. Damit erfüllte Er die Bitte des reichen Mannes an Abraham
wörtlich. Doch die Auferweckung des Lazarus von Bethanien
änderte nichts mehr an der Verstockung des Volkes Israel und seiner Führer,
von der der Herr schon früher gesprochen hatte (Luk.
8:10; 13:13-15);
im
Gegenteil, die Hohenpriester und Pharisäer beschlossen, Ihn zu töten (Joh.
11:46-53), und in der Woche darauf
schrie das Volk: »Kreuzige Ihn!«
Die
Bitte des sterbenden Herrn: »Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen
nicht, was sie tun« (Luk. 23:34), wurde von Gott erhört, und
Israel erhielt eine weitere Bewährungsfrist von vier Jahrzehnten.
Da es immer noch keine Umsinnung zeigte, brach das angesagte
Gericht herein, das heute noch andauert. Wie lange es währen würde, war
damals, als Er das große Gleichnis erzählte, noch eine
offene Frage. Die Antwort ließ der auferstandene Christus den
Apostel Paulus niederschreiben: »Denn ich will euch, meine Brüder,
über dieses Geheimnis nicht in Unkenntnis lassen ...
Verstockung
ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Vervollständigung der
Nationen eingehe. Und sodann wird Israel als Gesamtheit gerettet werden« (Röm.
11:25,26).
Glauben
wir nun,
was Gottes Wort über den Todeszustand sagt, oder folgen wir der Überlieferung,
den Fabeln und der Philosophie?
Luther
schrieb einmal zu diesem Thema: »Hier komme nun her, wer
so fürwitzig und gern wissen wollt, wie es um die Toten steht; denn
viele sind, die gern Lazarus (von Bethanien) hätten gefragt, was
er dort gemacht, gedacht, gefühlt und gesehen hätte, da er vier Tage im Grabe lag. Ich aber will hie lassen Lazarus und andere Leute
fahren und bei der Schrift bleiben, die da sagt, sie
schlafen. Denn mich dünkt, dass
solcher Schlaf hat sie so gar inne, dass sie nichts
fühlen noch sehen, viel weniger, denn man im natürlichen Schlafe fühlet; aber wenn sie auferweckt werden, geschehe ihnen, dass
sie nicht wissen, wo sie gewest sind.«
Die
Schrift kennt keine Umgehung des Todes und nimmt ihm nichts
von seinem ernsten Charakter als »der Sünde Kostration« (Röm. 6:23). Sie
kennt auch keine Unsterblichkeit getrennt von der
Lebendigmachung des Geistes in Christus. Dem Ungläubigen Unsterblichkeit
in irgendeiner Form zuzuschreiben, heißt, Christus Seiner großen Herrlichkeit
zu berauben. Alle sterben in Adam.
Nur in Christus können sie wieder lebendig gemacht werden
(1. Kor. 15:22).
Ein
unsterblicher Geist, bevor Christus ihn lebendig gemacht hat,
ist eine Vorspiegelung von Dämonen, die ihre Opfer über die wahre Natur ihrer
Herkunft zu täuschen suchen. Aber auch die Gläubigen
werden erst
lebendig gemacht, wenn Christus wiederkommt (l. Kor. 15:23), und nicht im
Todeszustand. Das gegenwärtige
Lebendiggemachtwerden unserer sterbenden Körper (Röm. 8:11)
ist eine Redefigur von sehr realer Bedeutung, aber nicht buchstäblich
aufzufassen, sonst würden Gläubige heute nicht mehr sterben. Ohne Auferstehung
wären auch die in Christus Entschlafenen
umgekommen (1.Kor. 15:18). Gott aber sei Dank, dass Er
will, dass alle Menschen einmal gerettet werden und zur Erkenntnis
der Wahrheit kommen (1.Tim. 2:4), und:
»Denn ebenso wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle
lebendig gemacht werden« (1. Kor. 15:22).
Hermann
Rocke
Broschüre
207 »Der reiche Mann und Lazarus«
2.
Auflage 1988
Konkordanter
Verlag Pforzheim