zurück zur Homepage

Der 23. Psalm

 

1 Ein  Psalm Davids

Jewe ist mein Hirte, mir wird an nichts mangeln;

2 in grünen Oasen wird Er mich lagern,

zu bewässerten Ruhestätten wird Er mich geleiten;

3 und meine Seele laben.

Er wird mich leiten auf Geleisen der Gerechtigkeit

um Seines Namens willen.

4 Auch wenn ich in der Schlucht des Todesschattens ginge,

werde ich nicht Übles fürchten, denn Du bist bei mir,

Dein Stecken und Dein Stützstab, sie trösten mich.

5 Du richtest vor meinem Angesicht einen Tisch zu,

vorn vor meinen Bedrängern,

Du salbst mein Haupt mit Öl,

mein Becher sättigt mich.

6 Ja, Gutes und Huld werden mir alle Tage meines Lebens folgen,

und ich werde im Haus Jewes wohnen für der Tage Länge.

 

Der Weg durch die Wildnis

Dieser Psalm ist wohl der bekannteste und meistgeliebte aller Lobgesänge Davids. Seine Worte und Redewendungen sind uns in der Übersetzung Luthers vertraut und tief in unser Bewusstsein eingedrungen. Jeder anders lautende Text wirkt auf uns wie ein Schock, weil wir die uns wohlbekannten Sätze lieben; sie sind zu einem festen Bestandteil unseres Lebens geworden. Aber wenn wir eine Übertragung haben wollen, die sich so getreu wie möglich an die eigentlichen Worte Davids hält, sollten wir der Tatsache ins Auge sehen, dass Änderungen unvermeidlich sind; denn größtmögliche Übereinstimmung mit dem Originaltext ist das Ziel einer konkordanten Übersetzung. Diese Änderungen geschehen ja nicht um des Änderns willen, sondern gründen sich auf das konkordante Wiedergabeprinzip. Wenn wir statt «Auen» «Oasen» sagen, dann allein deshalb, weil das hebräische nauth nicht mit Auen übersetzt werden kann. «Oasen» dagegen spiegelt genau die ursprüngliche Umgebung Davids wider. Dieser Begriff fügt sich auch genauestens in die übrigen Aussagen des Psalms ein.

Dieser Psalm ist ein wunderbares Beispiel für die umfassende Anwendung von Redefiguren, um tiefe geistliche Wahrheiten zu veranschaulichen. Grüne Oasen, bewässerte Ruhestätten, die Schlucht des Todesschattens, der Stecken und der Stützstab sowie der sättigende Becher Davids - das sind einprägsame Bilder, die in kostbarer Vielfalt, in beredter Sprache zu dem verständigen Herzen sprechen.

Der Psalm schließt mit einem triumphierenden Ausruf der Erwartung in der Vorausschau auf die zukünftigen Tage, wenn wir im Hause des Herrn wohnen werden - wir in den Himmeln und David auf der Erde. Wir wollen uns an den köstlichen Redefiguren erfreuen, die wie Blumen auf den Oasen der Erquickung des Wortes Gottes verstreut stehen. Sie sprechen zu unserer Seele und zu unserem Geist, sie offenbaren die tiefsten geistlichen Wahrheiten in besonders eindringlicher, packender Weise und sind dem Lobgesang und der Poesie angemessen, mit welcher der anbetende Geist sich am besten auszudrücken vermag.

 

Jewe ist mein Hirte

Wer die besondere Stellung der paulinischen Briefe für die heutige Gnadenverwaltung kennt, mag vielleicht einwenden, dass der Titel «Hirte» mit Bezug auf uns nicht ohne weiteres zutreffend ist, weil Er unser Haupt ist, wir zu Ihm ein überhimmlisches Verwandtschaftsverhältnis haben und Glieder Seines Körpers sind. Das ist eine gesegnete, unbestrittene Wahrheit; doch jede Redefigur muss in dem abgegrenzten Bereich betrachtet werden, wohin sie gehört. Wiewohl wir bezüglich unseres Dienstes, der gegenseitigen Beziehungen und der gemeinsamen Erwartung Glieder Seines Körpers sind, benötigen wir Anleitung und sorgsame Bewahrung durch den Einen, der die von Ihm Geliebten als ihr Hirte führt, sie die engen und steinigen Pfade der Wahrheit geleitet.

Der treue Hirte entspricht dem Bedürfnis Seiner Herde nach Nahrung, Wasser und Ruhe. Er wacht über sie, um sie vor Feinden ringsum zu schützen. Er kennt Seine Schafe und setzt Seine ganze Kraft für ihr Wohl und ihre Sicherheit ein. Er führt sie zu lebendigen Wasserquellen und sicheren Ruhestätten, wo sie sich erlaben können. Er hält die Lämmer liebevoll im Arm, nimmt Sich der Jungtiere in ganz besonderer Weise an, hilft den Kranken, verbindet gebrochene Glieder, sucht Verlorene und bringt sie zur Herde zurück. Alle diese Dienstaufgaben eines Hirten werden in der Schrift genannt und stehen uns vor Augen, wenn wir freudig ausrufen: «Jewe ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!»

 

Mir wird nichts mangeln

Mangel ist Unvollständigkeit, das Fehlen von etwas Notwendigem. Für die, die Ihn fürchten, besteht kein Mangel, schreibt David in einem anderen Psalm (34). Paulus bringt den gleichen Gedanken mit anderen Worten. Er war zufrieden mit all dem ihm Zugelosten, all sein Mangel war ausgefüllt, er hatte keinen Bedarf (Phil.4:18). Wie sollte Gott, der Seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, uns nicht alles in Gnaden gewähren (Röm.8:32)?

 

In grünen Oasen wird Er mich lagern

Die Vorstellungen des Psalmschreibers waren nicht dieselben, die etwa Luther im Sinn hatte, als er seine Übersetzung zu Papier brachte, vielmehr hatte David die wilden, unkultivierten Wüsteneien des damaligen Landes Israel vor Augen. Wie bereits eingangs angedeutet, dachten die meisten Übersetzer bei der Übertragung dieses Psalms wohl an die fruchtbaren, satten grünen Wiesen und Auen oder schattigen Wälder ihres Heimatlandes der gemäßigten Zonen. Die Vegetation des Landes Israel unterscheidet sich jedoch sehr von diesen Vorstellungen. Viele Flussbetten sind im Sommer völlig ausgetrocknet. Es gibt unerträglich heiße Gegenden, die tief unter dem Meeresspiegel liegen; wieder andere lassen infolge des steinigen und kargen Bodens und unter Einwirkung sengender Sonneneinstrahlung verbunden mit dem Fehlen von Wasser in bestimmten Jahreszeiten gar keine Vegetation aufkommen, die einen auch nur annähernden Vergleich mit hiesigen Verhältnissen gestattet. Wenn wir nun eine konkordante Übersetzung erstellen wollen, müssen wir dies nicht allein bezüglich des hebräischen Vokabulars tun, sondern auch hinsichtlich der geographischen und klimatischen Gegebenheiten, die David vorfand.

Jewe, der Hirte, führt die Seinen durch diese gefährliche und öde Welt, wo sich der Geist allein aus Seinem Wort ernähren kann und Hilfe nur von Ihm kommt. Der Hirte wird, so hatte es David vor Augen, Seine Herde durch raue und wasserlose Gegenden leiten, hin zu den bewässerten Zufluchtsorten der Wüstenoasen mit ihrer Vegetation und Gras zur Weide. Hier werden sie sich erquicken und Ruhe finden können. Der Prophet Joel spricht von grünen, bewachsenen Oasen (Joel 2:22), wo die Bäume Frucht tragen, wo Feigen und Wein reifen. Es ist ein Ort der Üppigkeit und reichen Wachstums. Die wunderbaren Redefiguren dieses Psalms sprechen Bände, wenn wir nur ihre Bedeutung erkennen. Das ist aber nur dann der Fall, wenn wir um den buchstäblichen Sinn der hier gebrauchten Sprachbilder wissen. Das Weiden, das Wasser und die Ruhe in diesen Oasen der Wildnis versinnbildlichen die Nahrung, die uns das Wort Gottes darreicht, dessen Wahrheiten unseren Geist und unsere Seele erlaben und stärken.

Meine Seele wird Er laben

Die Gläubigen, die den Unterschied zwischen Seele und Geist erkannt haben und um die dominierende Rolle des Geistes in der gegenwärtigen heilsgeschichtlichen Verwaltung (oikonomia; Eph.3:2; Kol.1:25) wissen, mögen mitunter vergessen, dass auch die Seele- sie ist das Bewusstsein - immer noch eine große Rolle in unserem Glaubensleben spielt. Durch unsere Gedanken stellt unser Geist die Verbindung mit dem Unsichtbaren her, der geistlichen Wirklichkeit der Wahrheit; unsere Seele aber hält die Verbindung zu der Welt um uns her. Die Seele ist das Ergebnis der Tätigkeit unserer fünf Sinne. Was wir sehen, hören, fühlen, schmecken und riechen, macht die Seele aus. Die Wirksamkeit dieser fünf Sinne formt die seelischen Empfindungen. David war sich wohl bewusst des Unterschieds zwischen Seele und Geist und gebrauchte seine Wörter mit dementsprechender Genauigkeit. Unsere Seelen bedürfen ebenso der Wiederherstellung, der Erlabung wie die seine, besonders in Zeiten der Versuchungen, Drangsal und Not. Doch immer sollte die Seele dem Geist dienstbar untertan sein. Eine Stärkung für die niedergeschlagene und erschlaffte Seele sind die Psalmen, die wir gemeinsam betrachten dürfen. Zuerst sprechen sie unseren Geist an, indem wir ihre Botschaft erfassen und verstehen. Auf dieses Verständnis reagiert unsere Seele und bringt Liebe und Lobpreis, Frohlocken und Freude hervor, beeinflusst unsere Stimmung und findet unsere Zustimmung. Hierin zeigt sich die Wirksamkeit sowohl der Seele als auch des Geistes.

 

Die Schlucht des Todesschattens

Eine Schlucht ist etwas anderes als ein Tal. Sie ist ein tiefer Bergeinschnitt oder eine Bergspalte, zuweilen fruchtbar (Jes.28:1), oftmals aber eine Stätte des Todes und der Leblosigkeit, wie die Salzschlucht, wo Schlachten geschlagen werden (Ps.60:2). Stets ist sie für uns gleichbedeutend mit einer Stätte des Todes. Am Tag des Herrn wird der erschlagene Gog in einer Schlucht beerdigt werden (Hes.39:11). Es ist auch ein Ort, wo Schatten und Düsternis vorherrschen.

David sah seinen Hirten ihn zu grünen Oasen leiten, hin zu bewässerten Ruhestätten auf Geleisen der Gerechtigkeit. Aber es ergeben sich im Leben zeitweilig Umstände, die bewirken, dass unser Weg durch enge, halbdunkle Schluchten führt, wo der Glanz des Lichtes der Gegenwart Gottes nicht so offenkundig ist. Das war bei David oftmals so, und sein Herr schien weitab von ihm zu sein. Doch selbst dann fürchtete er kein Übel, denn er wusste, dass Jewe mit ihm war. Es tröstete ihn der Stecken der Zucht und der Stützstab der Hilfe.

Eine Schlucht des Todesschattens muss nicht notwendigerweise eine Stätte des buchstäblichen Todes sein. Meist ist es ein Abschnitt unseres Lebensweges, wo Düsternis und Dunkelheit uns innehat und wir das Licht nicht mehr sehen. Gehen wir nicht alle dann und wann durch solche Dunkelheit?

 

Dein Stecken und Dein Stützstab, sie trösten mich

Trost spricht zum Herzen. Er spricht der bedrückten Seele zu, gibt Entspannung und wärmt das verängstigte, zitternde Herz. Der Trauernde braucht zuerst Trost. Die Betrübten und vom Lebenssturm Gepeitschten finden bei einem wahren Zusprecher die Ruhe, die alle Schmerzen lindert und Erleichterung bringt, die froh werden und Freude einkehren lässt. Es gibt nur Einen, der wahrhaft den Namen Tröster verdient (Jes.51:12). Seine Worte, Seine Aussagen, sind der Balsam, der ebenso Trauer in Freude umzukehren vermag, wie er Asche der Trauer in Schönes verwandelt. Menschliche Trostspender gleichen gar zu oft den Freunden Hiobs, sie sind leidige Tröster (Hiob 16:2). Es gibt keinen Trost, der mit dem aus dem Wort Gottes vergleichbar wäre. Dieser spricht zu dem in Drangsal befindlichen Herzen und lindert den Schmerz in der Brust. Davids Weisheit ist die Weisheit Gottes; denn er war sich dessen bewusst, dass er beide nötig hatte, den Stützstab des Trostes und der Hilfe, der ihn auf seinem leidensvollen Weg mit Zuspruch versorgte, und auch den Stecken der Zucht und Unterweisung, um ihn den Weg der Gerechtigkeit zu lehren.

 

Du richtest vor meinem Angesicht einen Tisch zu, vorn vor meinen Bedrängern

Dieser Tisch ist jener, von dem der Herr diejenigen ernährt, die Ihm nahe und zu eigen sind. Er stellt bildlich die ganze Freigebigkeit und Fülle dar, die vor uns im Wort der Wahrheit ausgebreitet wird. Nur dieses Wort befriedigt unseren Geist und erquickt unsere Herzen. Es gibt nichts sonst in der Welt, was uns stützen und erhalten könnte. Wenn wir uns anderem zuwenden, so werden wir keine Erfrischung erfahren, keine Zufriedenheit gewinnen, sondern werden dürstend und hungernd in unseren Seelen bleiben. Das wahre Brot Gottes - das Manna in der Wildnis - ist Christus Selbst, und die lebendigen Wasser Seines Wortes sind der einzige Quell des Lebens und der geistlichen Kraft.

 

Du salbst mein Haupt mit Öl

Öl symbolisiert Glückseligkeit über die Rettung, über Segnungen, die sich aus der Rettertat Gottes ergeben. Sie werden auf Seine Auserwählten ausgegossen und machen das Angesicht glänzend (Ps.104:15). Öl bedeutet aber auch Gemeinschaft und gemeinsame Segnungen (Ps.133); denn nur zwischen denen, die sich dieser Segnungen im Herrn aufgrund eines gemeinsamen Erlebens freuen, kann wahre Einsicht, Einheit und Gemeinschaft bestehen. Die Salbung des Hauptes Davids ist Ausdruck der Segnungen, die über ihn ausgegossen wurden.

 

Ich werde im Haus Jewes wohnen für der Tage Länge

Die Höhe unseres geistlichen Strebens, der Höhepunkt unserer Freude ist unser Im-Herrn-Sein, die Gemeinschaft mit Ihm, um in der Wärme Seiner Gegenwart zu wachsen. Wir haben Ihn im Geist erkannt und erfreuen uns der Kostbarkeit Seiner Nähe im Geist. Körperlich ist Er jedoch jetzt noch weit weg von uns in den höchsten Höhen der Himmel. Der Tag ist aber nahe, wenn Er von dort herabsteigen wird bis hinein in die Luftschicht über uns, um uns zu Sich zu entrücken. Dort werden wir mit Ihm zusammentreffen. Danach werden wir mit Ihm aufsteigen, durch die Himmel hindurch, und werden so mit Ihm in die höchsten Sphären der Herrlichkeit Gottes gelangen, Seines und unseres Vaters. Dort werden wir für die Länge der Tage der Äonen wohnen, in Seiner nächsten Nähe, Ihm gleichgestaltet (Röm.8:29) und für Ihn daseiend mit allen unseren Gedanken, Worten und Werken.

Danach sehnte sich auch David, nur mit dem großen Unterschied, dass er im Haus Jewes auf der Erde wohnen wird, um dort in der Gegenwart Gottes zu sein. Er liebte die Lieblichkeit des Hauses Gottes (Ps.26:8) und begehrte nur eins von Jewe: In Seinem Haus alle Tage seines Lebens wohnen zu dürfen, Jewes Freundlichkeit zu gewahren und in Seinem Tempel über Ihn nachzudenken (Ps.27:4). Diese Bitte wird ihm in den Äonen der Herrlichkeit vollkommen erfüllt werden, zuerst im Tempel des Millenniums und danach in dem letzten Äon in der unmittelbaren Nähe Seines Gottes im neuen Jerusalem auf der neuen Erde.

 

 

 

D.Hayter; H.Hoffmann, aus der Zeitschrift „Unausforschlicher Reichtum“, Jahrgang 1977,

S. 257 ff., vom Konkordanten Verlag Pforzheim